© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/01 28. September 2001

 
BLICK NACH OSTEN
Ein Ritter kehrt nach Reval zurück
Carl Gustaf Ströhm

Arnold Rüütel, der nach mehreren erfolglosen Wahlgängen in Tallinn (Reval) auf fünf Jahre zum Präsidenten Estlands gewählt wurde, mag sich einer Weisheit des Konfuzius erinnern, der einst gesagt hat: „Man muß nur alt genug werden, um vom Ufer aus die Leichen seiner Feinde stromabwärts vorüberziehen zu sehen.“ Noch vor wenigen Wochen hätte niemand in Estland auch nur geträumt, daß der 73jährige Ex-KP-Funktionär und letzte Vorsitzende des Obersten Sowjets der Estnischen Sowjetrepublik Nachfolger des um zwei Jahren jüngeren weltläufigen und sprachkundigen Intellektuellen Lennart Meri werden könne.

Meri hatte noch wenige Tagen zuvor davor gewarnt, Estland dürfe es sich nicht leisten, an der Schwelle zu EU und Nato einen Mann mit KP-Vergangenheit an die Staatsspitze zu stellen. Am Ende aber gab es im Wahlmännergremium, das im Revaler Estonia-Theater zusammentrat, nur noch die Wahl zwischen zwei Ex-KP-Mitgliedern: dem Parlamentspräsidenten Toomas Savi und Rüütel.

Nun wäre es gewiß zu einfach, Rüütel als „rote Socke“ abzutun. Auch seine Gegner bescheinigen dem Bauernsohn von der Insel Ösel (Saaremaa) persönliche Integrität. Rüütel hat dem Verfasser dieser Kolumne bereits 1992 - wenige Monate nach der staatlichen Unabhängigkeit - berichtet, wie er als Chef des Obersten Sowjets gemeinsam mit anderen Vertretern der damaligen Sowjetrepubliken mit Gorbatschow in Moskau über Autonomie- und Unabhängigkeitswünsche verhandelte. Obwohl alle anderen Sprecher der Sowjetrepubliken ausgemacht hatten, nacheinander ihre Forderungen vorzutragen, sei am Schluß nur er, Rüütel, übriggeblieben. Alle anderen hätten geschwiegen - aus Angst. Als er dann die estnischen Wünsche präsentierte, sei Gorbatschow aufgesprungen, habe ihm wutentbrannt die Faust unter die Nase gehalten und ihn als Verräter beschimpft, den man zur Rechenschaft ziehen werde. Als dann die sowjetische Kriegsflotte vor dem Tallinner Hafen auftauchte und man damit rechnen mußte, daß sowjetische Kommandos die aufsässigen estnischen Funktionäre verhaften, habe er, Rüütel, sich geweigert, sein Büro zu verlassen und sich zu verstecken. Diese Geradlinigkeit ist ein Stück des estnischen Nationalcharakters.

In der sich formierenden unabhängigen Republik Estland geriet Rüütel bald vom Zentrum an den Rand des Geschehens. In der überschwenglichen Atmosphäre von Liberalisierung, Marktwirtschaft und angestrebter Westintegration rückten jüngere und äußerlich attraktivere Gestalten in den Vordergrund. Rüütel aber begann, sich mit den „Verlierern der Wende“ zu beschäftigen: Er nahm sich des ländlichen Estland an und begann für die Bauern zu sprechen, die von der EU-Konkurrenz hinweggefegt werden könnten. Er kritisierte den hemmungslosen Verkauf von Immobilien an Ausländer. Er prägte den Satz, daß es Estland dann gutgehe, wenn es den Leuten auf dem Land gutgehe. Auch was Nato und EU betraf, nahm er eine differenzierte Haltung ein: Er sei zwar auch für den Beitritt - aber, so wörtlich, die Regierung habe sich zuviel mit der europäischen Integration und zuwenig mit der sozialen Frage im eigenen Lande beschäftigt, wo der Durchschnittsverdienst monatlich unter 700 Mark betrage.

Die nicht-linken Kräfte haben zu Rüütels Sieg durch Streit und die „Arroganz der Macht“ beigetragen. Die kleinen Leute sehen in ihm aber den „Ritter“ (so die deutsche Übersetzung seines Namens), der gekommen ist, um ihre Probleme zu lösen. Ob Rüütel sie enttäuschen muß, weil ihm die Kompetenzen fehlen, steht auf einem anderen Blatt.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen