© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/01 28. September 2001


Die Grausamkeit der Moralisten
von Franz Uhle-Wettler

Sinnt man der Zukunft des Krieges nach, so findet man bald, daß wichtige Voraussagen bedeutender Politikwissenschaftler einander widersprechen. Es beginnt damit, daß schon manche antike Völker und Kulturen den Krieg als Unglück betrachtet haben. Zudem haben sogar frühe Völker dem Wüten des Krieges wenigstens Zügel angelegt. Weiterhin haben viele Völker bald gefordert, Kriege nur für sittlich gerechtfertigte Ziele zu führen. Die Auffassung Ciceros, Augustinus’, Thomas von Aquinos, Luthers und vieler anderer, ein Krieg dürfe, wenn überhaupt, nur für eine causa iusta geführt werden, ein Krieg müsse also ein bellum iustum sein, hat also eine lange Tradition. Sie ist heute weltweit verbreitet und wird weltweit mindestens verbal akzeptiert. Das zeigt, daß die Vorstellungen des bellum iustum einem tiefen Hoffen und Sehnen der Menschen entspringen. In der Tat: politisch erwachte Völker wollen den Grund des Krieges kennen, sie werden sich nur mit sittlich überzeugenden Gründen zufrieden geben.

Eben weil die Idee des bellum iustum heute weithin als selbstverständlich gilt, mithin auch ohne viel Nachdenken akzeptiert wird, ist jedoch die Erinnerung bitter notwendig, daß auch das bellum iustum zwei Seiten hat - eine positive und eine gefährliche. Immerhin hat der Gang durch die Geschichte auch gezeigt, wie früh schon vor allem Chinesen vor dem Fanatismus der Tugend warnen mußten, wie früh sie die Aggressivität jeder Moral angeklagt und wie früh schon Inder die Problematik eines bewaffneten Kampfes um das Recht bedacht haben. Zudem konnten schon in der Antike Feldherren wie Alexander der Große in „amoralischen“, also ohne Einmischung religiöser oder pseudoreligiös-ideologischer Motive geführten Kriegen viel Menschlichkeit, Anstand und Ritterlichkeit bewahren. Das gleiche Bild zeigten viele Kriege der frühen Neuzeit, über die, unter anderen, Machiavelli, Friedrich der Große und Clausewitz geschrieben haben. Der Eindruck drängt sich auf, daß gerade die „amoralischen“ Kriege so „moralisch“ wie nur möglich geführt werden. Das läßt, falls es zutrifft, wenig Gutes für die Gerechten Kriege des 21. Jahrhunderts erwarten.

Immerhin zeigte der Gang durch die Geschichte auch, wie leicht die Lehre vom bellum iustum den Krieg ideologisch aufheizt und damit barbarisiert. Jeder Tugendlehre ist wohl, wenn sie in die Politik eingreift, eine leicht zu entfesselnde Aggressivität und damit auch Brutalisierungstendenz untergemischt. Das zeigen schon die Kreuzzüge und Ketzerkriege des Mittelalters. In der europäischen Neuzeit war der Erste Weltkrieg das erste bellum iustum. Schon für diesen Krieg wurde in einigen Völkern eine Stimmung erzeugt, die einen dauerhaften Frieden entscheidend erschwerte. Der Zweite Weltkrieg galt noch mehr als bellum iustum; nun wurde auch die Kriegführung rebarbarisiert. Weithin wurde das ius in bello nicht nur mißachtet, sondern offiziell negiert. Die Behandlung der sowjetrussischen Kriegsgefangenen durch die Deutschen sowie der deutschen Kriegsgefangenen durch die Sowjetrussen, der Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung, die Massenvertreibungen, der Rassismus auch des pazifischen Teils des Krieges und vieles andere sind im 18. und 19. Jahrhundert nicht einmal denkbar gewesen.

Der Gang durch die Geschichte zeigte auch viele Versuche, das ius ad bellum einzuschränken oder gar supranationalen Institutionen zu übertragen. Doch das Urteil über den Erfolg dieser Versuche kann nur zwiespältig sein. Schon die Verträge der antiken griechischen Amphiktyonien sind oft mißachtet worden. Die Abschaffung des innerstaatlichen ius ad bellum, des Fehderechts, hat im mittelalterlichen Europa Jahrhunderte gebraucht; die Abschaffung des zwischenstaatlichen Fehderechts, also die Übertragung des Kriegsführungsrechts an den Sicherheitsrat der Uno, war bestenfalls partiell erfolgreich. Bestenfalls - denn auch in vergangenen Jahrhunderten, also ohne Uno, sind Kriege zwischen Kleinstaaten, die den Großen unerwünscht waren, von diesen verhindert worden. Zudem stehen neben den Erfolgen des Sicherheitsrates manche Aktionen seiner Vormächte, die das Faustrecht des Stärkeren lebhaft in Erinnerung rufen.

Das verspricht für das 21. Jahrhundert wenig Gutes. Eher ist zu befürchten, daß sich die Renationalisierung des Krieges und damit die Wiederbelebung des Faustrechts oder gar der „Glaubenskriege“ (Kimminich) fortsetzt.

Weiterhin hat der Gang durch die Geschichte gezeigt, wie zutreffend die vielen geurteilt haben, die den Frieden als „Frucht der Gerechtigkeit“ bezeichneten und so die unbedingte Voraussetzung und Basis jedes Friedens offenlegten. Damit ist zugleich der wichtigste Grund für das Ungenügen der zur Friedenwahrung geschaffenen Organisationen genannt. Auch der Völkerbund und die Uno konnten nur selten allgemein-glaubwürdig bestimmen, was im speziellen Fall gerecht war, und noch seltener konnten sie es durchsetzen. So mußten sie vor der Friedensaufgabe scheitern.

Das zeigt weitere Gefahren für das 21.Jahrhundert. Nur die Aussicht auf baldige Gerechtigkeit läßt eine unterdrückte Minderheit Agitatoren widerstehen und stillhalten. Nur die Aussicht auf einen gerechten oder wenigstens ertragbaren Frieden kann eine unterliegende Kriegspartei zum Aufgeben bewegen. Diese Aussicht aber wird fehlen, wenn die Kriege des 21. Jahrhunderts als ein zum Kreuzzug entartetes bellum iustum geführt werden. Die Kriege werden dann noch länger und erbitterter werden, weil dem Unterliegenden nichts furchtbarer erscheint als die Niederlage.

Der Gang durch die Geschichte zeigte auch deutlich, daß die furchtbarsten Kriege die Bürger- und Partisanenkriege sind. Das hat schon Thukydides beschrieben. Die Partisanenkriege der Napoleonischen Zeit stechen heraus; die Brutalität der Partisanenkriege des Zweiten Weltkriegs sowie der Nachkriegszeit war nicht zu übertreffen. Falls zukünftige Kriege von Partisanenkriegen begleitet sind, werden sie zu den furchtbarsten der Geschichte gehören.

Schließlich zeigte der Gang durch die Geschichte auch die Gebrechlichkeit und Verführbarkeit der menschlichen Vernunft. Schon diejenigen, die gläubig die agapé, die Liebe Gottes, und die clementia verkündeten, hatten wenig Hemmungen bei Heidenbekehrung und Ketzerkriegen. Ein geschmeidiges Denken lastet die Brutalität der Partisanenkriege auch heute nur dem jeweiligen Gegner an, stellt sie dort deutlich heraus und übersieht sie bei denjenigen, denen es zuneigt. So spricht manches für die Ansicht, das ungeheure Potential der modernen Waffen übersteige die menschliche Vernunft und die menschliche Sittlichkeit noch mehr als in vergangenen Epochen. Wenn das zutrifft, so könnte es auch bei den Kriegen des 21. Jahrhunderts wenig clementia und viel Überzeugung geben, gegen den bösen Gegner sei auch das brutalste Mittel gerechtfertigt.

Die Lehre aus alledem ist offensichtlich: Die Kriege des 21. Jahrhunderts werden ebenso wie die des 20. Jahrhunderts durch die „Gärungen“ der Völker (Burckhardt), also die Propaganda der Regierenden gefährdet sein. Mithin könnten sie durch folgende Charakteristika gekennzeichnet werden:

- Die Regierungen sowie immer mehr die Medien und damit deren Beherrscher werden bestimmen, was weltweit geschehen ist, was davon als Krise gilt und wo ein Eingreifen geboten ist.

- Um Volk und Parlament zum Kriegsentschluß zu bringen, werden die Regierungen und interessierte Medien eine massive und bedenkenlose Propaganda inszenieren; auch bei den Medien werden sich die schwächeren bald den stärkeren Bataillonen anschließen, weil gerade in aufgeregten Zeiten niemand gern politisch inkorrekt sein mag;

- die Kriege werden Gerechte Kriege sein oder als solche drapiert werden;

- während des Krieges werden die Regierungen die Propaganda fortführen, um den Kriegswillen zu präservieren;

- der Krieg kann so zum Kreuzzug werden und wird dann mit den für einen Kreuzzug üblichen Methoden geführt werden;

- der Krieg wird noch einmal grausamer werden, wenn Partisanen, zivile Freiheitskämpfer, ihn führen

- und die Hoffnung auf einen ausgleichenden, also gerechten Frieden ist gering, denn die siegreichen Kreuzfahrer werden Bestrafung sowie Umerziehung der Bösen verlangen.

Mithin ist die Gefahr deutlich, daß die Kriege des 21. Jahrhunderts nicht nur, wie im 17., 18. und 19. Jahrhundert, zwischen moral- und gesetzlosen Tigern, sondern, noch schlimmer, wie die Kriege des 20. Jahrhunderts, also zwischen moralisch aufgeladenen und friedensbeteuernden Tigern geführt werden. Die Kriegsparteien werden ihren Gegner, wie schon im Ersten Weltkrieg, je nach Bedarf als huns, krauts und boches oder, wie im Zweiten Weltkrieg, als huns, krauts, boches, Untermenschen und human animals betrachten. Bei der Bekämpfung solcher Schurken darf der Gute sogar das Völkerrecht und das Kriegsvölkerrecht mißachten. Diese Attitüde wird schließlich einen gedeihlichen Frieden oft unmöglich machen.

Im 20. Jahrhundert haben sich die Tiger moralisch aufgeladen und folglich mit gesteigerter Grausamkeit bekriegt. Im 21.Jahrhundert könnten sich diese Tiger zusätzlich mit weitreichenden Massenvernichtungswaffen ausrüsten.

Insgesamt spricht vieles dafür, daß Konfliktprävention, weltweite Demokratisierung, Desillusionierung und Exportverbote für Rüstungsmaterial den Krieg nicht beseitigen werden. Mithin wird die hohe Zahl bewaffneter Konflikte, die die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts kennzeichnete, nicht geringer werden. Ohne Gerechtigkeit ist Friede nicht möglich. Und sogar wenn Gerechtigkeit weltweit hergestellt wäre, würde es noch immer fanatische Utopisten geben, die diese Gerechtigkeit als ungerecht empfinden und zur kriegerischen Veränderung drängen.

Wahrscheinlich ist jedoch ein Wandel in der Gestalt der Kriege. Dieser Wandel hat sich bereits in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts deutlich abgezeichnet.

Das schließt moderne Ausrüstung und moderne Waffen nicht aus, also „mit Mobiltelephonen ausgestattete Machetenkrieger“ (E. Vad). Da die Grenze zwischen regulären Soldaten, irregulären Kämpfern, Terroristen und Kriminellen verschwindet, verschwindet auch die im bisherigen Völkerrecht wesentliche Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten. Lord Wellingtons Urteil ist zitiert worden: Wer einen solchen Krieg initiiert, öffnet die Tore der Hölle. Das unterminiert alles, was in einer jahrhundertelangen mühsamen Entwicklung zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Eingrenzung des Krieges geschaffen wurde.

Weitere Fragen der heutigen soldatischen Existenz ergeben sich schon aus dem Bundeswehr-Einsatz im ehemaligen Jugoslawien. „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“, heißt es in der Verfassung. Entsprechend schwört oder gelobt der deutsche Soldat, der Bunderepublik Deutschland „treu zu dienen“ sowie „das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes“ tapfer zu verteidigen. Aber „der Bund“ sowie „das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes“ waren in Jugoslawien wohl kaum und in Timor, Kambodscha sowie Somalia gar nicht bedroht; im Kosovo schützte der deutsche Soldat die Bundesrepublik bestenfalls vor der Unbequemlichkeit weiterer Flüchtlinge. Damit stellt sich die Frage, wie die Politiker das Eingreifen vor denjenigen Soldaten rechtfertigen, die sie in ferne Konfliktzonen schicken.

Vorläufig gibt es genügend positive Faktoren, die diese Probleme für die deutschen Streitkräfte zudecken: die Befriedigung, im ehemaligen Jugoslawien einer wahrlich humanitären Aufgabe zu dienen, und eine bemerkenswert großzügige finanzielle Ausstattung. Das läßt die Frage offen, ob das bei einem ernsthaften Kampfeinsatz mit Gefallenen und noch mehr Verwundeten ausreichen wird - oder ob die Probleme dann aufbrechen werden. Die Soldaten, ihre Angehörigen und vielleicht die Öffentlichkeit werden dann laut, vielleicht überlaut fragen, ob der Einsatz von der Verfassung („stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“) und vom Diensteid („der Bundesrepublik treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“) gedeckt wird.

Insgesamt ergibt sich: Politiker, Soldaten und Medienfürsten, die heute Truppen zu „friedenschaffenden Maßnahmen“, also zum Kampf einsetzen, stehen vor einer schwierigen Aufgabe. Sie müssen den Einsatz als Gerechten Krieg deklarieren und müssen die Massen überzeugen können - aber sie müssen eine Pervertierung zum Kreuzzug, also eine Diffamierung des Gegners verhindern. Sollte die Gegenpartei auch Partisanen einsetzen, so muß die Truppe und müssen die Kampfmethoden einem solchen Gegner gewachsen sein - und dennoch muß die Truppe saubere Hände behalten.

Das sind schwierige Aufgaben. Bei deren Lösung müssen Politiker und Soldaten sich wohl auf Werte stützen, die heute oft als vortechnisch bezeichnet werden, weil sie einer rationalen Durchdringung entzogen sind: religiös gegründete Anschauungen, dazu Anstand, Ritterlichkeit, Ehrgefühl. Freilich sind es gerade dieses Werte, die sich im 20. Jahrhundert oft als letztes Bollwerk gegen verbrecherische Forderungen und Verlockungen erwiesen haben. Das zeigen nicht zuletzt die Gefallenen des 20. Juli 1944. Die heute gern weit in den Vordergrund gerückten Managerfähigkeiten werden vermutlich nicht ausreichen.

 

Dr. Franz Uhle-Wettler, Jahrgang 1938, ist promovierter Historiker und Generalleutnant a.D. Er veröffentlichte Fachbücher und militärgeschichtliche Publikationen. Bei seinem Text hier handelt es sich um einen Auszug aus seinem Anfang Oktober im Verlag Koehler/Mittler, Hamburg, erscheinenden Buch „Der Krieg. Gestern - Heute - Morgen“.


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