© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/01 05. Oktober 2001


Ein Sonntag in Berlin
Identität der Hauptstadt
Dieter Stein

Vergangenen Sonntag spazierte ich mit Begleitung und Schirm durch das regnerische Berlin. S-Bahnhof Tiergarten waren wir ausgestiegen und schlenderten über die für den Berlin-Marathon abgesperrte Straße des 17. Juni durch den Tiergarten. Erste gelbe Blätter lösten sich von den Bäumen, nur selten kommen uns Menschen entgegen. Beim Botschaftsviertel verlassen wir den Park.

Abgesehen von den fürchterlichen skandinavischen Vertretungen mit ihren rundum mit giftgrünen Lamellen versehenen Fassaden zeugen viele Botschaften, so die mexikanische, die italienische und die japanische, von einem architektonisch umgesetzten Selbstbewußtsein, das in der deutschen Hauptstadt wenig Gegenstücke findet.

Unser Spaziergang führt uns am Lützowplatz vorbei zur Urania. Keuchende Marathonläufer liegen nach dem Zieleinlauf auf Feldbetten und lassen sich massieren. Über der Szene kreist ein Rettungshubschrauber. Deutsche Identität - ein Marathonlauf, ohne anzukommen? Berlin ist jedenfalls die deutsche Hauptstadt. Das deutsche an ihr ist ihr Mangel an Gestalt und Wille zur Form.

Der Potsdamer Platz: namenlose Bauklötzchen-Architektur. Kaum anders sieht es an den Stadtgrenzen von Leipzig und Kassel oder bei der Frankfurter Messe aus. Wie selten hat man in Berlin den Mut, Historisches originalgetreu wiederaufzubauen! Wie unschuldig Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex sich hier einträchtig in Stahl, Glas und Sandsteinverblendung eine Akropolis geschaffen haben ... So riesenhaft das Kanzleramt gegenüber dem Reichstag, so zwergenwüchsig ist das Selbstverständnis und die ästhetische Gestalt der deutschen Kapitale.

Es gibt sie dennoch, die erholsamen Inseln der Stadt, die das alte Berlin ahnen lassen. Gendarmenmarkt und Friedrichstraße vereinen Altes und Neues gelungen - doch schon am Schloßplatz blickt man in die wüste Leere, die Bombenkrieg und Sozialismus hinterlassen haben. Noch immer haben sich die wankelmütigen Politiker nicht entscheiden können, Berlin vom dahinmodernden „Palast der Republik“ zu erlösen und mutig das Schloß wiederzuerrichten und damit das Herz der Stadt wieder zum Leben zu erwecken.

Es ist kleinkariert und provinziell, wie über den Wiederaufbau zentraler Bauwerke und Plätze gestritten wird. Aber die Architektur ist Spiegelbild und steingewordener Ausdruck ihrer Zeit. Und da wir in einem Deutschland leben, das seine gewachsene Bedeutung seit der Wiedervereinigung zwar ahnt, sich seiner wirtschaftlichen Stärke bewußt ist, aber politisch immer noch nicht erwachsen geworden ist, steht zu befürchten, daß man auch das Berliner Schloß unentschieden als „Sowohl-als-auch“ rekonstruieren wird.

Die nächste Generation wird mit Belustigung auf diese architektonischen Zwitterlösungen schauen und sie zusammenschieben, wie es Erichs Lampenladen passiert. Bestand wird alleine haben, was dauerhaft Geltung besitzt. Und das gilt es zu schaffen.


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