© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   42/01 12. Oktober 2001


Ein Krieg um die Vormacht
Die USA greifen Afghanistan an und weiten den Konflikt aus
Michael Wiesberg

Seit Sonntag läuft der erwartete Vergeltungsschlag der USA gegen das Taliban-Regime in Afghanistan. Flankiert von ihrem „treuesten“ Verbündeten England werden, wie bereits im Kosovo-Krieg intensiv geprobt, „ausgewählte Ziele“ in Afghanistan bombardiert, damit das „Böse“ in Gestalt von Osama bin Laden und seinen Protegés, dem afghanischen Taliban-Regime, „ausgemerzt“ wird. Ob und inwieweit deutsche Soldaten bei dem US-amerikanischen Kreuzzug gegen das Böse beteiligt werden, ist derzeit noch nicht absehbar. Daß die rot-grüne Regierung aber wild entschlossen ist, den alten Grundsatz „Germans to the front!“ ohne Vorbehalte wiederaufleben zu lassen, darüber hat Bundeskanzler Gerhard Schröder keinen Zweifel aufkommen lassen. Da dieser Feldzug kaum mit ein paar Bombenangriffen beendet sein wird, muß damit gerechnet werden, daß deutsche Soldaten noch zum Zuge kommen. Womöglich sogar als Teil jener Bodentruppen, die beim „Ausfegen“ von bombardierten Ausbildungslagern oder „Terroristennestern“ eingesetzt werden könnten.

Daß die Bombenangriffe der USA eher symbolischer Natur sind, hat bereits die erste Angriffswelle gezeigt. Es ist kaum damit zu rechnen, daß das Taliban-Oberhaupt Mullah Mohammad Omar oder bin Laden getötet werden. Daß diese längst auf den Militärschlag vorbereitet waren, zeigte ein vorab aufgezeichnetes Video, in dem bin Laden davon redet, daß „der Sturm des Glaubens gekommen“ sei. Er, bin Laden, „schwöre bei Gott“, weder „Amerika noch die Menschen, die dort leben, werden von Sicherheit träumen, bevor wir diese in Palästina erleben, und nicht bevor alle ungläubigen Armeen das Land Mohammeds verlassen“.

Inwieweit das Ziel der Eröffnungsangriffe, das US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld als Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der afghanischen Opposition definierte, erreicht wird, muß abgewartet werden. Skepsis gegenüber amerikanischen Erfolgsmeldungen ist, dies ist eine Lehre vergangener US-Interventionen, auf jeden Fall angebracht.

Von nicht unerheblicher Bedeutung dürfte das Verhalten der islamischen Welt werden. Von Marokko bis Indonesien steht, von einigen vom Westen profitierenden Staatsoberhäuptern abgesehen, die Mehrheit der dort lebenden Muslime keineswegs so einmütig auf seiten der USA, wie es den Anschein hat. In einigen islamischen Staaten genügt nur ein kleiner Funke, um Putschversuche auszulösen. Immer wieder haben fanatische fundamentalistische Mullahs auf korrupte und feudale Regierungen in bestimmten muslimischen Staaten hingewiesen und die dort stationierten US-Streitkräften angeprangert. Brisant ist die Lage insbesondere in Pakistan, auch mit Blick auf den Kaschmir-Konflikt mit Indien. Aber auch das Verhalten des Irans, dessen Ziehkind die Taliban (dt. „Schüler“ oder „Studenten“) einmal waren, ist schwer kalkulierbar. Greifen die Taliban darüber hinaus tatsächlich Usbekistan an, wird möglicherweise auch noch Rußland auf den Plan gerufen. Aber auch Israel wird versuchen, aus dem Konflikt gegebenenfalls Vorteile zu ziehen, was wiederum die Nachbarstaaten zu Reaktionen nötigen könnte.

Bleibt weiter der nach wie vor ungelöste Konflikt mit dem Irak. Erst letzten Mittwoch haben amerikanische und britische Militärflugzeuge irakische Flugabwehrstellungen im Südirak beschossen. Daß die gewaltige Militärmacht, die die USA am Persischen Golf versammelt haben, nur für Afghanistan bestimmt sein soll, fällt schwer zu glauben. Diese Armada könnte darauf hindeuten, daß die USA mit den Terroristen mittelfristig gleich auch noch Saddam Hussein beseitigen wollen.

Wenn hier und da bereits die Rede davon ist, daß aufgrund der Militärschläge der USA und der Offensive der Nordallianz die Tage der Taliban-Regierung gezählt seien, dann dürfte sich diese Mutmaßung noch als pures Wunschdenken entlarven. Es werden mit ziemlicher Sicherheit Bodentruppen eingesetzt werden müssen, soll die Taliban-Regierung wirklich aus den Angeln gehoben werden. Ob ein Einsatz von Bodentruppen überhaupt eine Erfolgsaussicht hat, daran zweifeln insbesondere diejenigen, die einmal mit den militärischen Tugenden der afghanischen Mudschaheddin Bekanntschaft gemacht haben. Zum Beispiel das ehemalige Mitglied der britischen Elitetruppe SAS (Special Air Service) Tom Carew, der nach dem Ende seiner Dienstzeit als Soldat für die US Defence Intelligence Agency arbeitete. Carew befand sich zur Zeit der sowjetischen Besetzung in Afghanistan, um die Gotteskrieger, die den Krieg gegen die Sowjets zunächst in einer Art und Weise führten, wie sie ihn vom Kampf gegen die Engländer vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges kannten, in moderner Guerillataktik zu schulen. Die Mudschaheddin sollten sich, schaut man auf die lange Liste gefallener sowjetischer Soldaten, als gelehrige Schüler erweisen.

Carew hat eine Anschauung davon bekommen, was feindliche Soldaten im Kampf gegen die Mudschaheddin zu erwarten haben. Nirgends sonst habe er eine derartige Brutalität erlebt wie in Afghanistan. Gefangene russische Soldaten, denen man die Bäuche aufgeschlitzt hatte, wurden zum Sterben in die sengende Sonne gelegt. Viele Russen, die sie lebend vorfanden, hätten die Mudschaheddin in Stücke zerhackt. Man kann sich in etwa ausmalen, wie derartige Bilder auf zartbesaitete westliche Gemüter wirken werden … Für die Afghanen hingegen gehörten solche Anblicke zum Alltag. Deshalb seien sie für die westlichen Truppen äußerst gefährliche Widersacher.

Die Mudschaheddin verfügten darüber hinaus noch über etwas, was militärisch von noch größerem Wert ist: Sie kennen den Hindukusch wie ihre Westentasche, und sie wissen, wie die Höhlen und Schluchten, die Abgründe und die steilen Hänge am besten zu nutzen seien. Selbst in einer Höhe von 4.250 Meter über dem Meer, auf der ein Europäer nur noch nach Luft schnappt, seien die Afghanen noch voll „in ihrem Element“. Am schwierigsten sei es gewesen, den Mudschaheddin abzugewöhnen, sich wie Lemminge zu verhalten: Für sie sei es eine unermeßliche Ehre, in einem Dschihad den Märtyrertod zu sterben.

Es steht den westlichen Kreuzzüglern unter Führung der USA also alles andere als ein schneller, sauberer Krieg bevor. Es muß statt dessen mit einem langwierigen und schmutzigen Kleinkrieg gerechnet werden. Und nicht nur das: Sollte es tatsächlich zum Einsatz von Bodentruppen kommen, dürften die Taliban, schon aus Gründen der psychologischen Kriegsführung, ähnlich grausam kämpfen wie weiland die Mudschaheddin gegen die Sowjets. Es wird sehr viel strategisches und taktisches Geschick vonnöten sein, soll die Konfrontation mit den Taliban für die Anti-Terror-Allianz nicht mit einem bösen Erwachen enden.


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