© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/01 12. Oktober 2001

 
Zirkelschluß aus dem Geist der Talkshow
Semantische Alarmstufen: Jürgen Habermas erhält den Friedenspreis des Buchhandels
Günter Zehm

R echtzeitig zur Buchmesse hat der Suhrkamp-Verlag zwei neue Lesebücher von Jürgen Habermas auf den Markt gebracht, beide mit dem Aufkleber „Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2001“ verziert. Es sind Vorträge und Essays, die bereits in Zeitungen oder Zeitschriften abgedruckt waren, über das Berliner Holocaust-Mahnmal etwa, über den Parteispendenskandal der CDU, über Präimplantations-Diagnostik und Forschung an embryonalen Stammzellen. Gleichzeitig ist im Hamburger Junius-Verlag eine neue Auflage von Detlef Horsters „Jürgen Habermas zur Einführung“ erschienen. Das Habermas-Geschäft läuft auf Hochtouren.

Macht es Freude, sich von diesem Philosophen belehren zu lassen? Gibt es interessante Entdeckungen, schlagende Einsichten? Nun, zunächst gilt schon mal: Habermas-Lektüre ist ein zähes, unerotisches Unternehmen. Ob es um die Grundlagen der sogenannten Diskurs-Ethik geht oder um die Einführung des Euro, ob um Kants kategorischen Imperativ oder um eine Rede des Bundespräsidenten Johannes Rau, stets herrscht semantische Alarmstufe Nummer eins, Semester-Abschlußprüfungs-Atmosphäre. Die diversen Gegenstände werden gleichmäßig mit grauer Farbe überzogen, es wird ein Netz immer gleicher hochabstrakter Kategorien über sie geworfen, so daß einem buchstäblich Hören und Sehen vergeht.

Sokratische Ironie, Augustinischer Bekennermut, Voltairescher Witz, Kantsche Rokoko-Anmut, Hegelsches Begriffsfeuerwerk - alle diese Einstellungen sind Habermas vollkommen fremd. Methodisch ist er ein steißpaukerischer Scholastiker von der striktesten Observanz. Bezeichnenderweise hat die Ästhetik keinen Platz in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“, kommt weder als Thema vor noch als Richtlinie für die eigene Argumentation.

Aber es ist auch nicht so, daß Habermas durch pure, schneidende Logik überzeugen und auf seine Seite ziehen will, wie das die Mathematiker und Analytiker versuchen. Das rhetorische Element spielt bei ihm durchaus eine Rolle, ja vielleicht sogar die entscheidende. Was dem „Diskurs“ an Glanz abgeht, das ersetzt er durch Intensität, durch Lautstärke und Masseneinsatz.

Am Anfang seiner Theorie steht ein gewissermaßen frenetischer (man könnte auch sagen: fanatischer) Begriff von Demokratie. Alle sollen sich „kommunikativ“ austauschen, alle sollen mitreden und mitreden und mitreden … Es wird nicht ausdrücklich gesagt, aber doch zwingend nahegelegt: Das Mitredendürfen ist im Grunde ein Mitredenmüssen. Dem liberalen Ideal des Laissez-faire, wonach man sich auf Wunsch auch à la Epikur aus den politischen Querelen heruashalten und diskursive Enthaltsamkeit üben darf, wird ein „römisch-republikanisches“ Ideal entgegengestellt, demzufolge jeder Bürger bzw. Mitbürger die verdammte Pflicht und Schuldigkeit hat, sich politisch bemerkbar zu machen.

Am Ende steht dann, so stellt sich das Habermas vor, ein „normatives“ Gerüst aus Handlungsanleitungen, einzig entstanden aus spontanem, „lebensweltlich“ inspiriertem Geschwätz, dem man also nur gewisse Regeln, „Verfahren“, eingeben muß, um die Weichen reibungslos auf „Emanzipation“ stellen zu können. Während die „alte“ Kritische Theorie seiner Lehrer Horkheimer und Adorno die „Emanzipation“ in der „Befreiung der Arbeiterklasse“ sah, besteht für Habermas diese Emanzipation in der Herstellung des „herrschaftsfreien Diskurses“. Die Lebenswelt des Menschen, so lehrt er, werde „kolonialisiert“, das heißt verbogen und entfremdet, durch die instrumentellen Kräfte Geld und Macht. Der ideale Diskurs könne diese Kolonialisierung aufheben, zumindest humanisieren und durchsichtig machen. Es geschieht die Befreiung der Lebenswelt durch den Geist der Talkshow.

Aber natürlich ist die postulierte „Herrschaftsfreiheit“ des Diskurses eine reine Utopie, eine Illusion, so wie es früher der „vollendete Kommunismus“ war. Die Wirklichkeit des Kommunismus war die Diktatur der Einheitspartei, die Wirklichkeit des herrschaftsfreien Diskurses ist die Diktatur der Talkmaster, die nicht weniger total sein kann als die der Partei.

Die Talkmaster entscheiden darüber, wer zum Diskurs zugelassen und wer ausgeschlossen wird. Sie kolonisieren die Lebenswelt mindestens genauso verheerend wie Geld und Macht, indem sie letztlich darüber entscheiden, wer überhaupt Zugang zu Geld und Macht erhält. Im Habermas ’schen Werk spiegelt sich das in einem Zirkelschluß, einer sogenannten Dialelle, die versteckt in den Büchern herumgeistert und von vielen Kritikern auch schon markiert worden ist, unter anderen von Charles Taylor, Vittorio Hössle und Niklas Luhmann. Der Diskurs, so lautet die Dialelle, führt zu „vernünftigen“ Ergebnissen, weil er selber „vernünftig“ ist. Nur „vernünftig“ Sprechende werden zum Diskurs zugelassen, und wer „vernünftig“ ist, darüber befinden die „Vernünftigen“.

Habermas selbst zählt sich zu den „Vernünftigen“, und er nennt auch die Maßstäbe für die „Vernünftigkeit“; es sind erstens die „Moderne“ und zweitens der „Universalismus“. Jeder Diskursteilnehmer muß sich zur „Moderne“ bekennen, und das heißt, er darf kein „vormodernes“, „metaphysisches“, von Mythen und Göttern beeinflußtes, noch nicht vom modernen Diskurs niedergequatschtes Weltbild haben, sonst verliert er seine Diskursfähigkeit.

Allerdings gibt es Ausnahmen. In dem Essay über das Holocaust-Mahnmal befürwortet Habermas ausdrücklich das finster Symbolhafte, „Ritualisierte“ seiner geplanten Gestalt, die Verwandlung des Holocaust in einen steinernen Mythos, dem man sich nur mit ritualisierter Gestik nähern darf. Dafür habe es ja vorher, tröstet sich der Diskurs-Ethiker, „das Säurebad einer erbarmungslosen öffentlichen Diskussion“ gegeben. Man sieht, wohin diese Diskurs-Ethik führt: Eine von Tabus und Strafdrohungen polizeiknüppeldicht umstellte Schein-Diskussion einiger weniger privilegierter Redakteure und Talkmaster wird unversehens zur „erbarmungslosen“ Realdiskussion uminterpretiert.

Vom selben philosophischen Karat sind die Sätze über den zweiten angegebenen Maßstab für Diskursfähigkeit, den Universalismus. An sich könnte man ja den in der Habermas’schen Theorie angepeilten Diskurs privilegierter „Vernünftiger“ als eine Neuauflage des Platonischen Philosophenstaates aus der „Politeia“ interpretieren. Doch während sich Platons Philosophen mit der Herrschaft über eine überschaubare, an verwirklichbaren Interessen orientierte Polis begnügten, begehrt Habermas nicht weniger als die „Weltherrschaft der Vernunft“, die „im Diskurs“ herbeigeführt werden müsse. Chinesen, Muslime und Christen, Moderne, Vormoderne und Postmoderne - alle sollen unter das Regiment der neuen Diskurs-Ethiker gebracht werden. Der Leser kann nur den Kopf schütteln über so viel Anmaßung bei so viel Empirieferne.

In dem im Band „Zeit der Übergänge“ enthaltenen Interview zum Thema „Jerusalem, Athen und Rom“ erläutert Habermas die Differenz zwischen dem Universalismus der von ihm angepeilten Diskurs-Ethik und dem Universalismus der alten Missionsreligionen Christentum und Islam. Diese Religionen hätten ein „naives Bewußtsein imperialer Grenzenlosigkeit“ gehabt, das von ihren heutigen „Fundamentalisten“ nicht mehr ins Feld geführt werden könne. In der Moderne sei nur noch ein „strikter, wenn Sie wollen, Kantscher Universalismus“ denkbar, ein Universalismus also, der aus der abendländischen Aufklärung stammt und zu dem es nicht die geringste Alternative gäbe, der nun mal unser Schicksal sei.

Und Anmaßung und Empirieferne auch in Hinblick auf die Zukunft, also bei der Diskussion über Genetik und Stammzellenforschung. Habermas mag nicht, wie der offzielle Katholizismus, an die „volle Menschenwürde“ der befruchteten, noch nicht eingenisteten Eizelle glauben, lehnt die sich abzeichnenden neuen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten aber trotzdem ab, weil er dadurch das „menschliche Gattungsbild“ gefährdet sieht. Es schmeckt ihm nicht, daß der Mensch seit jeher den Menschen „überstiegen“ hat (Sophokles), er sieht den Höhepunkt der Gattungswürde ein für allemal erreicht im gegenwärtig vorhandenen Diskursmaterial.

Die Diskurs-Ethik entpuppt sich als eine Theorie zur Erhaltung des Status quo. Nicht zuletzt dies erklärt, wieso Habermas zum „führenden Denker der BRD“ (D. Horster) aufsteigen konnte. Er drückt in geradezu klassischer Weise die Grundbefindlichkeit der zu Macht und Geld gekommenen, „vernünftig“ gewordenen 68er-Generation aus, ihre Illusionen und geheimen Sehnsüchte, aber auch ihre mentale Unsicherheit, ihre Zukunftsangst, ihren Haß auf die Traditionen des eigenen Landes, ihre Unterwürfigkeit gegenüber allem, was von „draußen” kommt. Es ist eine Physiognomie, in der sich Hochmut und Sklavengesinnung eigentümlich mischen.

War es zur Zeit der „alten“ Kritischen Theorie unter Studenten und jungen Wissenschaftsadepten üblich, semantisch zu „adornieren“ (Erwin K. Scheuch), um zu zeigen, daß man auf der Höhe der Zeit sei, so ist es heute unter Funktionsträgern der BRD üblich, bei gegebenem Anlaß zu „habermaseln“. Sie sitzen in den Beraterstäben der Regierung, in Zeitungs- und Fernsehredaktionen, in gut dotierten Sonderstäben für den „Kampf gegen Rechts“, sie sind, mit einem Wort, voll etabliert wie selten eine Führungsschicht zuvor. Aber sie fühlen sich gleichwohl als eingefleischte „Kritiker der etablierten Verhältnisse“, gleichsam als Repräsentanten einer „institutionalisierten Revolution“ im Stil einer mittelamerikansischen Bananenrepublik. Und sie berufen sich dabei auf Habermas.

Dieser seinerseits, der kritischste der Kritiker, kann sich vor kritischen Auszeichnungen kaum retten. Er ist Träger des Theodor W. Adorno-Preises, des Hegelpreises der Stadt Stuttgart, des Sigmund-Freud-Preises der Darmstädter Akademie, des Geschwister-Scholl-Preises der Stadt München, des Förderpreises für deutsche Wissenschaftler im Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Programm, des Karl-Jaspers-Preises der Stadt Heidelberg, des Theodor-Heuß-Preises, des Hessischen Kulturpreises, der Helmholtz-Medaille der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, … Und nun kriegt er auch noch den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Und Jan Philipp Reemtsma von der Anti-Wehrmachtsausstellung hält die Laudatio. Jürgen, mir graut vor dir.

 

Jürgen Habermas: Zeit der Übergänge. Kleine politische Schriften IX. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2001, 200 Seiten, 19,90 Mark

Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2001, 120 Seiten, 28 Mark

Detlef Horster: Habermas zur Einführung, 2. überarbeitete Auflage, Junius Verlag, Hamburg 2001, 194 Seiten, Fotos, 26,80 Mark

Prof. Dr. Jürgen Habermas,

1929 in Düsseldorf geboren, gilt nach Adorno und Horkheimer als führender Vertreter der „Kritischen Theorie“ und als „Staatsphilosoph“ der Bundesrepublik

 

 

Prof. Dr. Günter Zehm lehrt Philosophie an der Universität Jena.


 
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