© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/01 26. Oktober 2001

 
Pankraz,
die Affäre D. und die neue Suchtethik

Wieviel Mitleid verdienen Süchtige? Sind sie für das, was sie sich und anderen antun, verantwortlich zu machen? Ist Sucht Anlaß für Strafmilderung? Solche und ähnliche Fragen stellen sich immer häufiger, je mehr unsere tagtägliche Lebenswelt mit Süchtigen und ihren Affären angefüllt wird. Im Rückblick auf die „Affäre Daum“ spricht man neuerdings von einer „Suchtethik“, die zu schaffen sei. Man könne das Problem nicht mehr einfach den Ärzten und der Boulevardpresse überlassen.

Sucht sei eine Krankheit, sagen die Ärzte, und die Boulevardpresse vergießt dazu Krokodilstränen. Der Süchtige habe „keinen freien Willen mehr“. Aber gerade viele Süchtige, wendet dagegen Harald Köhl - in dem im Verlag Karl Alber (Freiburg) erschienenen Sammelband „Sucht und Selbstverantwortung“ - ein, entwickelten ein überdurchschnittliches Maß an Willenskraft und Entscheidungsschläue, schon um an die Mittel zur Stillung ihrer Sucht heranzukommen und die Mitwelt über das Vorhandensein und die Dimension dieser Sucht zu täuschen.

Ein Süchtiger, der im Zuge der Mittelgewinnung oder in Täuschungsabsicht schlimme Taten begehe, Betrug und Beschaffungsdiebstahl, gar Totschlag, sei doch kein Willensschwächling, der vorab auf mildernde Umstände rechnen dürfe. Dasselbe gelte für das fortgesetzte Ausnutzen anderer, wie es Süchtige so oft an den Tag legten, für die seelischen Quälereien, die sie anderen, meistens engsten Angehörigen, zufügten, für ihre Lügen, Täuschungen, Vertrauensbrüche, Unzuverläßlichkeiten in familiären oder freundschaftlichen Beziehungen.

Süchtige, resümiert Köhl, „kündigen eine wesentliche Voraussetzung für jede menschliche Partnerschaft auf ... Natürlich ist Kranksein als solches nicht vorwerfbar. Inwieweit das aber auch für krankheitsbedingte Handlungen (und Unterlassungen) gilt, hängt von der Art der Erkrankung ab und von den Bedingungen ihres Erwerbs. Die Art der Erkrankung macht hier den moralischen Unterschied.“

Jemand, der sich wider besseres Wissen in den Wind stellt und fahrlässig verkühlt, vielleicht davon eine Lungenentzündung bekommt, zieht völlig zu Recht Groll auf sich (auch wenn man ihm selbstverständlich medizinisch hilft, die Entzündung auszuheilen). Jemand, der sich eine HIV-Infektion durch exzessives Sexleben einfängt, steht moralisch im Zwielicht, im Gegensatz zu dem, der die gleiche Infektion durch Blutübertragung erleidet; das trifft jedenfalls für unsere aufgeklärten Breiten zu, in denen die Kenntnis der Risiken des Aids-Erwerbs zum voraussetzbaren Allgemeinwissen gehört.

Und zu diesem Allgemeinwissen gehört auch die Kenntnis über die Risiken des quantitativ überhöhten Alkoholismus oder der Drogeneinnahme. Die Risiken bewußt zu ignorieren, dann auch noch, bei bereits eingetretenen ersten Schwierigkeiten, die hierzulande überall angebotenen Therapieangebote abzuweisen und auf einen Narren freiweg anderthalbe oder gar zwei- und dreieinhalbe zu setzen, ist moralisch verwerflich, und niemand kann sich dabei auf fehlende Willensfreiheit herausreden. Schließlich weiß niemand, ob es eine solche Willensfreiheit überhaupt gibt.

Pankraz ist völlig mit Köhl und den anderen „Suchtethikern“, die in dem genannten Sammelband zu Wort kommen, einverstanden. Freiheit und mentale Autonomie, so lautet deren Hauptthese, sind für den Einzelnen und für die Gemeinschaft viel zu wichtig, als daß man sie vorschnell in den Wind schreiben und statt ihrer eine Krankheit des Geistes diagnostizieren dürfe. Auch in Suchtgefährdeten ist so lange wie möglich das selbstbestimmte Individuum zu sehen, dem Achtung gebührt, das sich aber, nicht zuletzt eben deshalb, auch an den für alle geltenden moralischen Standards messen lassen muß.

Das heißt nicht, daß Süchtige dem Spott und Hohn des Pöbels ausgesetzt werden sollen, daß sich jeder Spießer über sie erheben darf oder daß man sie mit spezifischen sozialen Sanktionen oder Stigmatisierungen bedroht. Es heißt nur, daß sie - bei genauer Abwägung jedes Einzelfalls - in jene Verantwortung gestellt werden, die jeder freie Bürger zu tragen hat, daß sie für von ihnen verursachte Schäden haften und sich privat und öffentlich ans moralische Portepee fassen lassen müssen.

Besonders mit letzterem hapert es bisher gravierend, zumindest wenn es sich um „Promis“ handelt. Deren Suchtanfälligkeit und -rückfälligkeit wird von den Medien in der Regel nicht vom moralischen, sondern ausschließlich vom sportlichen Standpunkt aus bewertet. „Bleibt er trocken oder wird er wieder naß?“, ist einzig die Frage, und der Betreffende kann mit seinem (Wieder)-Naßwerden richtig spielen, kann es gegebenenfalls als PR-Gag einsetzen, um damit „im Gespräch zu bleiben“.

Dabei zeigt sich der moralische Karat eines Süchtigen, wie Harald Köhl überzeugend dartut, gerade bei der Vermeidung von Rückfälligkeit. Dem von der Sucht „Geheilten“, in seiner Autonomie Wiederhergestellten widerfährt fast so etwas wie Gnade, er erhält die Chance, außer seinem zukünftigen auch sein vergangenes, von der Sucht überschattetes Leben vor den Augen der anderen, aber vor allem vor seinen eigenen Augen zu rechtfertigen, es sich gleichsam „anzueignen“.

Köhl: „Diese nachträgliche, nachholende Verantwortungsübernahme ist auch ein Stück der Wiedergutmachung, welche seine Opfer von einem Süchtigen erwarten dürfen. Nur wenn Letzterer sich nicht mit Verweis auf sein Krankgewesensein als verantwortungs- und schuldfrei deklariert, sondern sich mit moralischen Reaktionen als deren angemessener Adressat konfrontiert, wird er auf die (Wieder-) Herstellung von Verhältnissen wechselseitiger Anerkennung hoffen dürfen.“

Mit anderen Worten: Nur wer sch selber am Riemen reißt, darf erwarten, daß sich auch die anderen am Riemen reißen. Das gilt für Süchtige wie für solche, die nie in Versuchung kamen.


 
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