© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/01 02. November 2001


Ein zweites Vietnam
von Michael Wiesberg

Zu Beginn der Luftangriffe auf Afghanistan glaubte das Pentagon entgegen allen Warnungen an einen raschen Abschluß der Militäraktion in Afghanistan. Große Optimisten sprachen sogar davon, daß die Taliban binnen einer Woche in die Knie gezwungen sein werden. Rund drei Wochen später tritt das Pentagon mehr und mehr einen verbalen Rückzug auf Raten an. Konteradmiral John Stufflebeem sagte, es sei überraschend, wie hartnäckig sich die Taliban an der Macht hielten. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld äußerte Zweifel, ob es gelingen werde, Osama bin Laden zu fassen.

Mit Wandkarten, Zeigestock und Satellitenaufnahmen bemühen sich Ministeriumsvertreter, vermeintliche Fortschritte nachzuweisen. Diese sind wenig spektakulär. Sowohl die Taliban-Miliz als auch al-Quaida verzichten auf die Konzentration von Soldaten und Waffensystemen und verteilen ihre Kräfte statt dessen. Mühsam müssen deshalb Panzer für Panzer, Flugzeug für Flugzeug, Kanone für Kanone zerstört werden. Aber selbst dieses Unterfangen wird immer schwieriger, weil die Taliban inzwischen Waffen und andere Ausrüstungsgegenstände in die Nähe von Schulen, Moscheen und Wohngebieten verlegt haben. So wollen sie getötete Zivilisten als Propagandamittel einsetzen, um die USA zu delegitimieren. Genauso wie der nahende Winter könnte dies einen Keil in die Anti-Terror-Koalition der USA mit islamischen Staaten treiben. Afghanistan, das zeigt sich immer mehr, droht für die USA zu einer Falle zu werden, zu einem zweiten Vietnam.


 
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