© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/01 02. November 2001

 
Was ist Dekadenz?
von Karlheinz Weissmann

Dekadenz spiegelt sich im Beschluß des Bundestags vom 5. April über die Einrichtung des Haakkeschen Trogs. Zukünftig ziert den nördlichen Lichthof des Reichstagsgebäudes ein neues Kunstwerk: eine Holzkiste - 20,8 Meter lang, 6,8 Meter breit, 0,3 Meter hoch -, in die die Parlamentsmitglieder Erde aus ihren Heimatwahlkreisen füllen. In dem Objekt wird die Inschrift „Der Bevölkerung“ angebracht; sie ist von allen Stockwerken des Gebäudes zu lesen. Am 12. September hat Wolfgang Thierse die „partizipatorische Phase“ des Werkes eingeleitet, indem er einen Sack mit ausgehobenem Boden in den Trog einfüllte. Immerhin schickten einige sächsische CDU-Abgeordnete die ihnen zugewiesenen Säcke mit der Bemerkung zurück, daß sie sich an der Aktion keinesfalls beteiligen würden. Andere, die ursprünglich ablehnend votiert hatten, konnten der Versuchung nicht widerstehen, im „Sommerloch“ medienwirksam etwas Erde zu schaufeln.

Der ganze Vorgang ist nicht so harmlos, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn der „Interventionist“ Hans Haacke will sein Kunstwerk ausdrücklich verstanden wissen als Polemik gegen die Giebelinschrift am Westportal des Reichstagsgebäudes. Die Worte „Dem deutschen Volke“ wurden 1916 - während des Ersten Weltkriegs und also in kaiserlicher, vordemokratischer Zeit - angebracht und spiegelten - so Haacke - einen Geist, den er als „völkisch“ betrachte. Diesen Geist gelte es zu überwinden, denn der „Boden der Bundesrepublik ist unterschiedslos allen, die innerhalb ihrer Grenzen leben, gemeinsam“, die Abgeordneten hätten sich nicht länger einem deutschen Volk, sondern allen hier lebenden Menschen verpflichtet zu fühlen.

Das Wort „Volk“ ist nicht einfach - und da wird man Haacke recht geben müssen - mit dem Begriff „Nation“ identisch. In der Tradition deutschen Denkens kam ihm lange Zeit besonderer Rang zu: „In dem Volk ... ist alles Große, Gute, Verständige und Geistvolle ... Pöbel heißt im Staate jeder Mensch, der keinem Gesetze gehorchen will: die eine Klasse ist ungehorsam aus Übermut, die andere ist ungehorsam aus Ehrlosigkeit.“ Bemerkenswert an dieser Bestimmung Ernst Moritz Arndts wirkt die Abgrenzung des „Volkes“ gegen die Dünkelhaftigkeit der Aristokratie wie gegen die Haltlosigkeit des gesellschaftlichen Bodensatzes. Damit unterschied sich der Sinn des Wortes „Volk“ von dem sprachlich verwandten englischen folk, das die rechtlose Masse bezeichnete, wie von dem französischen peuple, das für die canaille verwendet wurde, eben diejenigen, die man nicht zum alten „Dritten Stand“ und dann nicht zu den Staatsbürgern zählen wollte. „Volk“ hatte immer einen un- oder vorpolitischen Bezug. Die Gemeinsamkeit des „Volkes“ beruhte stärker auf gemeinsamer Herkunft, Sitte und Sprache als auf dem gemeinsamen Staat, den die Deutschen für lange Zeit gar nicht besaßen. Das Ideal des „Volkes“ als einer quasi organischen Einheit hatte aber auch mit einem „gefühlsdemokratischen“ (Max Scheler) Zug in den Vorstellungen der deutschen Nationalbewegung zu tun. Das „Volk“ lebt, um noch einmal Arndt zu zitieren, in den „leibhaften Daseinsgesetzen“.

Mit der Tilgung der positiven Bezüge auf das „Volk“ wird den Deutschen ein weiteres Stück ihrer Eigenheit genommen, und sie mucksen sich nicht. Zwischen der Bereitschaft zur Selbstaufgabe und den Eigenarten deutscher Vergangenheitspolitik, zwischen dieser Bereitschaft zur Selbstaufgabe und der Emphase für das Fremde besteht ein innerer Zusammenhang. Immer handelt es sich um Signale der Kapitulation. Eine Nation wurde erfolgreich vom eigenen Un-Wert überzeugt. Man könnte ein Wort abwandeln, das Hippolyte Taine nach der Niederlage Frankreichs von 1871 gebrauchte: „L’Allemagne se meurt. Ne trouble pas son agonie“.

Wem das übertrieben scheint, der führe sich vor Augen, welche Entwicklung der natürlichen Substanz des Volkes bevorsteht.

Dekadenz äußert sich in der demographischen Entwicklung. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wird die Bevölkerung in den kommenden fünfzig Jahren von heute 82 Millionen Menschen auf 70 Millionen reduziert. Dabei verändert sich die Relation zwischen Berufstätigen und Rentnern von gegenwärtig 100 zu 40 auf 100 zu 75. Der Anteil der älteren und alten Menschen wird unaufhörlich steigen. Welche Konsequenzen das für die Mentalität eines Volkes hat, ist unschwer vorzustellen. Selbst die Optimisten, die den Bevölkerungsrückgang einfach für eine Folge des „Wertewandels“ halten und glauben, daß man sich den neuen Gegebenheiten anpassen solle, rechnen mit einem weitgehenden Verlust von Vitalität und Neuerungsbereitschaft.

Allen Prognosen liegt schon eine jährliche Zuwanderung von mindestens 200.000 Personen - eine komplette Großstadtbevölkerung - zugrunde. Vor die Wahl gestellt, ob man einen Zusammenbruch der Rentenkassen, der Sozialsysteme und der Infrastruktur riskieren oder die Probleme der Eingliederung immer neuer Migranten in Kauf nehmen will, entscheiden sich die Politiker regelmäßig für letztere Option. Die läßt sich außerdem menschenfreundlich als Aufnahme der Mühseligen und Beladenen - und progressiv als Anbahnung der multikulturellen Gesellschaft - darstellen.

Aber eine unangenehme Realität hinter den Phrasen fordert deutlicher ihr Recht: die Konkurrenz von Einheimischen und Zuwanderern, spezifische Formen der Ausländerkriminalität, der Zusammenprall ethnischer Banden. Es waren zwei Autoren der taz - Eberhard Seidel-Pielen und Klaus Farin -, die schon vor Jahren die Ansicht äußerten, daß ein „Krieg in den Städten“ stattfinde. Die Zukunftskommission Gesellschaft 2000 der baden-württembergischen Landesregierung stellte in ihrem Abschlußbericht, der im Dezember 1999 veröffentlicht wurde, fest, daß in etwa dreißig Jahren die Deutschen in einer Stadt wie Frankfurt am Main in der Minderheit sein werden, in Stuttgart und München habe man bis dahin mit einem Ausländeranteil von 50 Prozent zu rechnen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, daß es zu sozialen Zerfallserscheinungen wie in einigen urbanen Zentren Frankreichs komme. Vor allem sei zu befürchten, daß die ohne überzeugende Perspektive heranwachsenden Jugendlichen eine Sonderidentität ausbildeten, die mit Gewaltbereitschaft einhergehe. Trotzdem, so das Fazit der Kommission, müsse man die Wirkung der Einwanderung als eher positiv betrachten.

Bereits seit den siebziger Jahren genügt die Zahl der Geburten in Deutschland nicht mehr, um eine lebende erwachsene Generation durch eine neue zu ersetzen. Mit einer durchschnittlichen Geburtenzahl von 1,4 Kindern pro Frau und zweihundert- bis dreihunderttausend Abtreibungen pro Jahr liegen wir heute am unteren Ende der Skala, auf der die Natalität der Industrienationen eingetragen wird. Man kann diesen ganzen Vorgang für das zwangsläufige Ergebnis der Modernisierung halten. Aber Bevölkerungsschwund und Kinderlosigkeit sind auch schon in der Vergangenheit auftretende Phänomene gewesen, die zum Verlöschen ganzer Nationen geführt haben. „Verlöschen“ klingt dramatisch, und tatsächlich erhielten sich bis heute identifizierbare Reste der früheren Ägypter, Assyrer und Babylonier, aber die gegenwärtig in Griechenland lebenden Ethnien haben mit den in der Antike dort siedelnden nicht mehr als den Namen gemeinsam. Schon Sokrates beklagte die Auswüchse der Homosexualität und die Verbreitung der Prostitution, die zum Zerfall der Familie beitrügen. Viele hervorragende Geschlechter Athens starben infolge von Kindermangel aus. Die Verbreitung von empfängnisverhütenden oder abtreibenden Mitteln, zuerst in den Städten, dann auf dem flachen Land, taten ein übriges.

Im Angesicht eines ähnlichen Schicksals trafen die Römer seit dem Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. Maßnahmen, um den Bevölkerungsrückgang aufzuhalten. Augustus ließ dann durch den Senat Gesetze beschließen, die Junggesellen, ehelose Paare und sogar Witwen steuerlich schlechter stellten und im Hinblick auf die Erbfähigkeit zurücksetzten. Demgegenüber wurden Familienväter bevorzugt, der Kaiser selbst lobte öffentlich kinderreiche Familien, schuf Ehrenzeichen für Mütter und ein System von Prämien für arme Ehepaare, die zahlreichen Nachwuchs hatten. Es gehört allerdings zu den deprimierenden Tatsachen, daß diese Maßnahmen nur einen sehr bedingten Erfolg hatten. Bei 3.000 erhalten gebliebenen Grabsteinen aus der römischen Kaiserzeit verzeichnen 1.478 überhaupt Kinder, und nur 171 mehr als ein Kind in der Familie.

Aber kehren wir in die Gegenwart zurück.

Dekadenz, das ist die Bereitschaft, Zlatko eine eigene Talkshow zu geben. Um nicht mißverstanden zu werden: Natürlich hat es auch in der Vergangenheit solche Gestalten wie Zlatko gegeben. Aber sie gehörten ins gesellschaftliche Dunkel und - die im Dunkeln sah man nicht. Jetzt präsentieren sie sich im gleißenden Scheinwerferlicht. Sie belästigen uns durch Vulgarität und ein groteskes Mißverhältnis zwischen Geschäftstüchtigkeit und Unbildung. Sie werden allen Ernstes zu irgend etwas um ihre Meinung gefragt.

Es hat das auch mit Pornographie zu tun. Nicht mit jenen Nackedeis, die einem überall entgegentreten, sondern mit einer Zuchtlosigkeit, die auf die Ausmerzung von Scham zurückzuführen ist. Der Mensch ist das Tier, das sich schämen kann. Eine unpräzise Aussage, denn Tiere können sich allerdings nicht schämen. Scham hat mit Kultur zu tun, Schamlosigkeit hat mit Unerzogenheit zu tun. Zucht und Erziehung gehören zusammen. Das Ausbleiben von Erziehung, das infantile Verhalten der Erwachsenen und die bereits - keineswegs nur in Gewalttätigkeit - merkbaren Folgen einer Barbarisierung der Heranwachsenden bilden einen Zusammenhang, der typisch für die Dekadenz ist. Das Nachlassen der Kraft einer Kultur äußert sich im sichtbaren Überhandnehmen des Gewöhnlichen, das normalerweise - wohl vorhanden - aber in den Untergrund verbannt bleibt.

Der Völkerkundler Hans Peter Duerr wies unlängst auf das Beispiel einer Studentin hin, die vor der Kamera ihre Beine spreizte, um ihr Geschlechtsteil zu präsentieren. Befragt, ob sie sich nicht schäme, antwortete sie: „Was soll ich mich schämen, ich mache doch eine Menge Kohle damit!“ Ihre Schamteile befinden sich also nicht zwischen ihren Beinen, sondern in der Handtasche oder auf der Bank. Ursachen ihrer Scham sind ein leeres Portemonnaie und ein leeres Konto. Es besteht kein qualitativer Unterschied zwischen dieser jungen Frau, einer angehenden Akademikerin, und dem erwähnten Zlatko. Die Differenzen gehen verloren, auch das ist Dekadenz, oder wie Ortega y Gasset feststellte: „Wenn in einer Nation die Masse sich weigert, Masse zu sein - das heißt der leitenden Minderheit zu folgen -, dann löst sich diese Nation auf, die Gesellschaft bricht auseinander, es folgen das soziale Chaos, die historische Rückbildung.“

Dekadenz, das ist das Fernsehprogramm am Karfreitag, besonders das auf den Sendern, die sich unter Kontrolle des kirchlich gebundenen Medienmoguls befinden, der seine Empörung über die Entfernung von Kruzifixen in bayerischen Schulstuben kaum beherrschen kann, aber kein Problem damit hat, an einem kirchlichen Feiertag jeden, und auch den schlechtesten Geschmack zu bedienen. Als ich ein Kind war und in einer Familie aufwuchs, die man mit einem gewissen Recht als kirchenfern, wenn auch nicht als kirchenfeindlich, bezeichnen konnte, so gab es doch eine Art rhythmische Unterbrechung des Jahreslaufs: am Karfreitag, am Totensonntag, am Volkstrauertag. Dann war lautes Spielen, Singen und Pfeifen verboten, man durfte nicht fernsehen und kein Radio hören. Das erschien mir als Kind ein hinnehmbarer Verlust, denn es wurde sowieso den ganzen Tag ernste, meistens klassische Musik gespielt. Natürlich war einem Heranwachsenden nicht klar, warum der normale Gang der Zeit solchermaßen unterbrochen wurde, aber es teilte sich etwas mit von dem Ernst, von der wenigstens augenblicksweisen Besinnung der Menschen auf den Tod.

Es ist uns diese Ernsthaftigkeit und die damit verbundene Konzentration völlig abhanden gekommen. Wir leben in einer Zivilisation, die derart auf Ablenkung und Amüsement aus ist, daß ihr jede rituelle Gliederung, eigentlich jede Unterscheidungsfähigkeit fehlt. Die Menschen benehmen sich in der Kirche wie zu Hause, wie auf dem Sportplatz, wie in der Schule. Die Formlosigkeit, das „Coole“, das „Lockere“, die Lässigkeit haben überall Platz gegriffen. Die Einheitlichkeit des Stils ist ganz verloren gegangen, was nicht einmal als Verlust registriert wird, sondern als Gewinn an Entfaltungsmöglichkeit.

Alexander von Schönburg, einer der Mitautoren des ebenso seltsamen wie gefeierten Buches „Tristesse Royale“, spricht von der „industriellen Vollverspaßung der Gesellschaft“, die nur eine Grundlage kennt: „Show ist heute alles. Außerdem noch Materialismus, Hedonismus, Körper- und Jugendkult, was insgesamt ein wenig an die ausgehende Antike erinnert, bevor sie von Lava verschluckt und den Barbaren überrannt wurde.“

Das „System Kohl“ ist Dekadenz, mindestens bereitet es sie vor. Die Europäisierung oder „Verwestlichung“ Deutschlands scheint auch dergestalt Fortschritte zu machen, daß wir uns immer mehr an Korruption erlauben. Kennzeichen sind die Verfilzung der Parteien mit Verwaltung, Justiz, Militär und Wirtschaft, notfalls auch mit organisierter Kriminalität, der Zerfall von Gewaltenteilung und Machtkontrolle, schließlich die „Selbstauflösung des Staates“ (Dirk Schümer), das Eindringen des Mobs.

Das alles hängt mit dem Niedergang der politischen Klasse zusammen, deren Bestand eine Soziologin unlängst als „Negativauslese“ (Sibylle Tönnies) kennzeichnete. Was uns droht, sind „belgische Verhältnisse“. 1991 wurde der belgische Politiker André Cools vor der Tür seiner Mätresse erschossen. Die Täter waren Killer der tunesischen Mafia, die Hintermänner offenbar einflußreiche Mitglieder der Partei Cools, der wallonischen Sozialisten. Unmittelbarer Anlaß: die Drohung Cools’, die „Veruntreuung“ von schwarzen Geldern bekanntzumachen, die eigentlich der Partei hatten zugute kommen sollen, die aber von den Funktionären in die eigene Tasche gesteckt worden waren. Ähnliche Hintergründe muß man auch im Fall des belgischen Generals Jacques Lefebvre vermuten, der 1995 in einem Hotel tot aufgefunden wurde. Die Tat ist bis heute ungeklärt.

In Deutschland ist die Affäre Dutroux bekannter als die Fälle Cools und Lefebvre. Auch hier haben die Ermittlungen zu keiner vollständigen Aufklärung geführt, gar nicht zu reden von dem Tatbestand, daß im Zuge der Untersuchung acht beteiligte Personen ums Leben kamen. In erster Linie handelte es sich um Zeugen, aber zuletzt starb im Juli 1999 der Staatsanwalt Hubert Massa, Ankläger in den Fällen Cools und Dutrouy. Angesichts der mysteriösen Umstände sprach die belgische Presse mit kaum verhohlenem Sarkasmus vom „Selbstmord eines Staatsanwaltes, der zuviel wußte“.

Nun ist Korruption an sich nichts Neues und gehört im Grunde zu jedem politischen System, aber das Ausmaß und die Reaktion der Bevölkerung darauf sind beängstigend. Gerade hoch belastete Politiker in Belgien werden wiedergewählt, zum Teil mit außerordentlichen Stimmenzahlen. „Massenmachiavellismus“ (Friedrich Meinecke), eine Art kollektiver Zynismus, frißt die Bürgertugenden und damit die Empörungsbereitschaft. Die hilflosen Besserungsbemühungen - angefangen bei den Überlegungen der „Kommunitaristen“, endend bei wohlfeilen Appellen zum Aufbau der Zivilgesellschaft - sprechen für sich schon eine deutliche Sprache.

Einige Analytiker glauben, daß Versuche zur Abhilfe überhaupt zu spät kommen. Man könnte sie die Propheten der „kommenden Anarchie“ nennen. Der Mann, der diesen Begriff geprägt hat, der amerikanische Journalist Robert Kaplan, äußerte vor einiger Zeit die skandalöse Vermutung, es gebe eine Art zwangsläufigen Prozeß, der die parlamentarischen Demokratien in Militärdiktaturen verwandeln werde, wenn die Probleme der inneren Sicherheit auf anderem Wege nicht mehr in den Griff zu bekommen seien. Noch vor zehn Jahren urteilte der israelische Militärtheoretiker Martin van Creveld ähnlich, jetzt hat er diese optimistische Vorstellung aufgegeben und meint, das Chaos stehe bevor. Wer könne, der solle - je nach Weltregion - Schutz suchen bei einem mächtigen internationalen Konzern oder einem warlord oder einer fundamentalistischen Sekte, den übrigen bleibe nur, den Verbrechern so ähnlich wie möglich zu werden.

Thomas Couture, „Die Römer in der Verfallszeit“ (1847): Dekadenz wird verstanden als übertriebene Verfeinerung. Fatal ist jedoch, daß die Verfeinerung mit einer deutlichen Vulgarisierung einhergeht. Der Dekadente ist faul. Er hält es nicht mehr für nötig, die Bedürfnisse zu sublimieren. Er baut nichts mehr auf, sondern verlangt sofortige Befriedigung. Schon bald interessiert nichts mehr als Essen, Trinken und Kopulieren. Die erheblichen Mittel, über die ein Spätling verfügt, täuschen noch Fülle und Reichtum vor. Der Betrachter kann Aufstieg und Abstieg nicht deutlich unterscheiden. Die Macht ist immer noch bei den Römern. Im Imperium geht die Sonne nicht unter. Die berühmtesten Künstler der Welt singen sein Preislied. Doch wo Marmor und Mosaiken blenden, da ist längst nur noch der Schweinestall.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium in Göttingen. Der Text ist ein Auszug aus dem Vortrag „Was ist Dekadenz?“, als Broschüre zu bestellen beim Institut für Staatspolitik, Alte Frankfurter Str. 54, 61118 Bad Vilbel.


 
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