© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/01 02. November 2001

 
Autorenwettbewerb, die Zweite: Künstliche Intelligenz ist ein zweischneidiges Schwert
Der Mensch siegt über sich
Lennart Lopin

Ein uraltes orientalisches Märchen erzählt von einem ruhmreichen König, dessen Frau nach langer Zeit endlich einen Sohn zur Welt bringen sollte. Eines Tages aber dürstet der Gemahlin nach dem Blut des Herrschers. Schließlich, gerade als er sie umarmen will, beißt sie blutbegierig in seine Hand. Der König, von Sorge ergriffen, ruft seine Hofastrologen. Die prophezeien dem König heraufziehendes Unglück: Sein ungeborener Sohn hätte die Mutter zu der Untat veranlaßt und würde ihm dereinst nach dem Leben trachten. Doch der König kann ihnen in seiner Güte und Freude über den Thronnachfolger keinen Glauben schenken. Nur die Mutter weiß, was in ihr heranwächst, und gibt dem Prinzen den Namen Ajatasattu - ungeborener Feind.

In einer erstaunlich kurzen Zeit von geschätzten 40.000 Jahren hat es die Menschheit weit gebracht: einen gesamten Erdball bevölkert, Fußabdrücke auf einem anderen Himmelskörper hinterlassen und die Pest ausgehungert. Doch die Spezies homo sapiens wähnt sich in trügerischer Sicherheit. Denn Warwick Collins und mit ihm weitere namhafte Wissenschaftler geben der Menschheit noch höchstens 50 Jahre ...

Nein, hier ist nicht die Rede von drohenden Öko-Horrorszenarien, an denen wir täglich abstumpfen. Keine Polkappenschmelze, in der wir jämmerlich ertrinken werden, oder eine Treibhaushitze, die uns bei lebendigem Leibe verbrennt. Ganz im Gegenteil. Wir stehen, so Collins, an einer Wegkreuzung in unserer Menschheitsgeschichte, die weit über die Erfindung des Feuers oder den Aufbruch zu den Sternen hinausgeht. Wir erleben mitten unter uns die Evolution, die Geburt einer neuen Lebensform: Der künstlichen Intelligenz. Einer „Spezies“, die die menschliche Dominanz nicht nur in Frage stellen könnte, sondern eine düstere Zukunft heraufbeschwört, gegen die sich selbst eine Fiktion à la „Terminator“ wie ein zweites Eden ausnimmt.

Was zuerst nur nach billigem Science-Fiction-Stoff oder Boulevardente klingt, beruht auf harten Fakten: Collins argumentiert, daß sobald computergestützte Fertigungsanlagen selbst wieder vollautomatisiert Computer herstellen können, man von einem selbstreproduzierbaren Organismus und damit einem (wenn auch noch unbewußten) Lebewesen sprechen muß. Außerdem hat kein Organismus auf der Erde je eine schnellere Evolution durchgemacht als der Computer. Noch nie haben so viele intelligente Lebewesen an der Schaffung und Verbesserung einer einzigen neuen Lebensform mitgearbeitet. Auch kann niemand mit absoluter Sicherheit sagen, was die Vernetzung weltweiter Rechner und Netzwerke entstehen läßt. Eine Ameise mag ein stockdummes Chitinstäbchen sein - ein „Ameisenkollektiv“ ist höchst komplex und flexibel.

Nervengewebe unterscheidet sich von anderem Gewebe speziell durch seine elektrischen Impulse. Und je höher ein Organismus auf der biologischen Evolutionsleiter steht, desto größer der Anteil nervlichen Gewebes am Körpergewicht. Ergo: Über dem Menschen schafft die Evolution ein noch effizienteres Lebewesen - die künstliche Intelligenz, die nur noch aus elektrischen Leitern besteht.

Das Scheinargument mangelnden Bewußtseins geht am Hauptproblem vorbei: Muß Bewußtsein ein Vorteil sein? Gerade was die Eliminierung einer konkurrierenden Rasse (Mensch) betrifft, könnte ein Mangel an Bewußtheit und ein damit verbundener Mangel an Gewissen überaus „hilfreich“ sein.

Auch Säugetiere, so eines der zahlreichen Argumente, die Collins anführt, mußten nicht erst die Dinosaurier in allem nachbilden, bevor sie sie ersetzten. Die anorganische Robustheit der Maschinen, ihre gehirnähnliche Vernetzung weltweit und ihre rasante Entwicklung, machen sie zum Favoriten für das 21. Jahrhundert, das in Müllhalden und Ölteppichen zu ersticken droht.

Schon jetzt werden Stimmen laut, die über den Verlust des analytischen und kognitiven Denkens klagen, verursacht durch die übermäßige Berieselung mit den Produkten des Multimedia und der computerunterstützten Informationsvorverarbeitung. Noch immer sind wir - zu Recht - von unseren unglaublichen Errungenschaften und Durchbrüchen auf dem Technologiesektor beeindruckt.

Es sei eine dieser typischen egozentrischen Anmaßungen des Menschen, sich vermeintlich als unablösbare Krone der Schöpfung zu wähnen, die ihm zum Fallstrick werden könnte, erklärt der in moderner Biologie wie Informatik bewanderte Wissenschaftler Collins. Deshalb fordert er einen offenen, aber auch sehr ernsten Dialog der Wissenschaften, die sich lieber rechtzeitig dieses Problems annehmen sollten, bevor es zu spät ist. Denn bis vor kurzem hatten Collins’ Thesen nur für Gelächter gesorgt, bestenfalls aber Aufsehen erregt. In den Augen vieler Anthrophrozentriker mag zwar die Überlegenheit des Menschengeschlechtes das Fundament ihrer philosophischen Ergüsse sein, in den Augen der Schöpfung gewinnt jedoch letztendlich nur der Organismus, der die Ressourcen besser nutzt, sich besser an seine Umwelt anpassen kann. Da sich Rechner mittlerweile in allen ehemals dem Menschen vorbehaltenen Nischen der Informationssammlung,
-verarbeitung und -anwendung wiederfinden, ist ein künftiger Konflikt, der weit über Arbeitsplatznot und Rationalisierung hinausgehen wird, vorprogrammiert. Schade nur, wenn die maschinelle Netzintelligenz uns eines Tages nicht nur mehr als nützliche Bakterien betrachten sollte, die sie mit Wissen füttern, sondern als das, was scheinbar weit eher unsere Natur entspricht: unbelehrbare Unruhestifter - Ein paar biologische Waffen aus den zahlreichen computerüberwachten Arsenalen freigesetzt und die neue Spezies Elektronengehirn kann ungestört ihr Imperium errichten, nachdem sie sich vom menschlichen Ungeziefer befreit hat - sicher wäre dann auf jeden Fall eine Welt ohne Umwelt (auflagen), ohne Kriege, ohne auch nur ein „cogito ergo sum“: „Brave New World“ ist ein Honigschlecken gegen solch eine Zukunft, lieber ungeborener Feind … 


 
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