© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/01 09. November 2001

 
Der unzivilisierte Krieg
von Ulrich Penski

Nach dem unmittelba ren Entsetzen, das die verheerenden Anschläge in New York und Washing ton ausgelöst haben, drängte sich sogleich das Bedürfnis auf, das zunächst Unbegreifliche sich begreiflich zu machen, insbesondere auch in seinen politischen Zusammenhängen. Es war die Rede von Kriegshandlungen, von ungeheuerlichen Verbrechen, auch von Handlungen eines verdeckten Weltbürgerkrieges. Welche Qualifizierung vorgenommen wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie man den gegenwärtigen Ordnungszustand der politischen Welt versteht. Unabhängig von einer solchen begrifflichen Einordnung wurden die Anschläge als Angriffe auf die „zivilisierte Welt“ bezeichnet. Unklar blieb jedoch, wer zu dieser Welt gehört: nur die westlichen Industriestaaten oder doch die weitere in den Vereinten Nationen organisierte Staatengemeinschaft, die sich nach ihrer Satzung grundsätzlich Regeln befriedeten Zusammenlebens verpflichtet fühlt. Die berufene „zivilisierte Welt“ wird sich nicht zuletzt an der Art der Maßnahmen messen lassen müssen, die zur Sanktion und künftigen Vermeidung solcher Anschläge ergriffen werden.

Rhetorisch hat sich diese Welt zunächst nicht sehr „zivilisiert“ gegeben, wenn „Vergeltung“ der Anschläge oder ein „Kreuzzug“ oder „Feldzug“ gegen sie angekündigt wurde. In allen Fällen handelt es sich um ein Vorgehen, das eine Aufkündigung „zivilisierter“ Verhältnisse darstellt, wenn darunter jedenfalls auch rechtlich geregelte Verhältnisse und Verfahren verstanden werden sollen. Freilich waren solche Äußerungen unter dem unmittelbaren Eindruck der grauenvollen Wirkungen der Anschläge verständlich. Ein solcher Eindruck läßt das schon entwickelte Zivilisierte menschlicher Ordnung zerbrechen, und die Betroffenen werden gleichsam in einen Naturzustand der individuellen Selbstbehauptung eines jeden gegen jeden anderen zurückversetzt. Doch auch in einer solchen Lage ist es eine rechtsmoralische Aufgabe und Pflicht, ihn zu überwinden.

Immerhin hat sich bald danach der Ruf nach Besonnenheit Beachtung verschafft, worunter verstanden werden muß, daß den Anschlägen „zivilisiert“ begegnet werden sollte; eine bloß technisch sorgfältig überlegte Durchführung von Gegenmaßnahmen würde eine entsprechende Qualifizierung nicht verdienen. Jener Ruf jedoch wurde wenig später vom militärischen Aufmarsch der betroffenen USA, unterstützt von Verbündeten, kontrastiert und einer damit einhergehenden Demonstration von Bedrohungspotentialen. Und dabei ist es nicht geblieben.

Nach ergebnislosen Aufforderungen an das afghanische Taliban-Regime, die Führer des Al-Qaida-Netzwerks als angenommene Verantwortliche für die Anschläge auszuliefern, sind schließlich militärische Schläge auf Afghanistan erfolgt und werden bis heute fortgesetzt. Sofern militärische Gewalt als ein letztes Mittel eben die Grenzen des Zivilen überschreitet, ist fraglich, ob damit „zivilisierte“ Gegenmaßnahmen ergriffen wurden, abgesehen von ihrer Eignung bei einem weitgehend unsichtbaren Netz feindlicher Akteure. Aber auch als äußerstes Mittel eingesetzt, macht es einen Unterschied, ob sie von den betroffenen USA und ihren NATO-Verbündeten auf „eigene Faust“ ausgeübt wird oder im Rahmen der in den Vereinten Nationen organisierten Staatengemeinschaft. In diesem Falle wäre ihr Einsatz als der „zivilisiertere“ - weil staatengemeinschaftlich geregelt - anzusehen.

Bei einer Bedrohung und einem Bruch des Weltfriedens sowie bei Angriffshandlungen hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Aufgabe und Befugnis, die erforderlichen Gegenmaßnahmen, auch Anwendung militärischer Gewalt, zu beschließen und durchführen zu lassen. Inzwischen hat er zwar festgestellt, daß die Anschläge von New York und Washington eine Störung des Weltfriedens darstellen, auch hat er eine Entschließung gefaßt, daß alle Staaten verpflichtet seien, gegen den Terrorismus vorzugehen, aber über konkrete notwendige Maßnahmen, insbesondere Militärische, unter seiner Verantwortung blieb bis jetzt eine Entscheidung aus. Vielmehr hat er auf das Recht betroffener Staaten auf Selbstverteidigung hingewiesen und die durchgeführten Militärschläge der USA gegen Ziele in Afghanistan als Handlungen in diesem Rahmen hingenommen.

Unter der Geltung des allgemeinen Gewaltverbots der Satzung der Vereinten Nationen als Ausdruck einer insoweit „zivilisierten“ Staatenwelt stellt das Selbstverteidigungsrecht den Restbestand einer noch nicht zivilisierten dar. Es ist deshalb nach Art. 51 der Satzung auch nur solange zugestanden, bis der Sicherheitsrat die notwendigen Maßnahmen getroffen hat. Werden danach noch militärische Selbstverteidigungsmaßnahmen von einem Staat vorgenommen, liegt darin eine unzulässige Angriffshandlung. Da nun der Sicherheitsrat bisher keine notwendigen militärischen Maßnahmen ergriffen oder vorgängig sanktioniert hat, kann ein Selbstverteidigungsrecht der USA gegen terroristische Bedrohung grundsätzlich nicht bestritten werden, wobei seine näheren Voraussetzungen und sein Umfang dahingestellt bleiben mögen. Militärische Angriffe auf das Gebiet eines Staates unter Berufung auf dieses Recht setzen allerdings voraus, daß sich die Anschläge dem betreffenden Staat zurechnen lassen. Vom Sicherheitsrat sind sie bisher noch nicht als bewaffneter Angriff eines Staates, etwa Afghanistans, qualifiziert worden, so daß die Zulässigkeit der militärischen Schläge gegen diesen Staat Zweifeln unterliegt.

Der Verweis des Sicherheitsrats auf das Selbstverteidigungsrecht und seine Inanspruchnahme durch die USA mit fraglichen Mitteln lassen erkennen, daß die Zivilität der gewaltbetroffenen Welt noch deutliche Defizite aufweist. Ansonsten müßte der Sicherheitsrat eine staatengemeinschaftliche Sicherung des internationalen Friedens organisieren können. Noch weniger „zivilisiert“ erwiese sich aber die Staatenwelt, wenn die mangelnde Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrates auf die Haltung und den Einfluß des betroffenen ständigen Mitglieds, der USA, und des ihm verbündeten weiteren ständigen Mitglieds, Großbritanniens, zurückgeführt werden müßte. In diesem Fall würden die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Selbstverteidigungsrechts von der Macht herbeigeführt, die dieses in Anspruch nehmen will. Angesichts der Geltung des Gewaltverbots wäre dies eindeutig eine Rechtsmißbräuchliche Inanspruchnahme dieses Rechts.

In der Tat ist nach den öffentlich zugänglichen Informationen bisher nicht erkennbar, warum militärische Maßnahmen zur Bekämpfung der verdächtigten Urheber und Mithelfer der Anschläge vom 11. September und der sie schützenden Staaten nicht durch den zuständigen Sicherheitsrat organisiert werden könnten, zumal deren Netze offensichtlich staatenübergreifend ausgebreitet sind. Solange entsprechende Gründe nicht dargelegt werden können, bleibt deshalb die Frage berechtigt, ob das beanspruchte Selbstverteidigungsrecht zulässig ist, abgesehen von der Frage seines Umfangs und seiner Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf eine schon erhebliche Anzahl ziviler Opfer und die Folgen für zivile Zustände. Gründe der bloßen Effektivität reichen hier nicht aus. Damit wird aber auch fraglich, ob der Nato-Fall angenommen werden kann. Selbst wenn man in den Anschlägen einen bewaffneten Angriff sieht, läßt sich der Eintritt der Bündnisverpflichtung für die Nato-Mitglieder kaum vertreten, wenn die Voraussetzungen des Selbstverteidigungsrechts im Verhältnis zu den Befugnissen des Sicherheitsrates nicht vorliegen.

Die Mitglieder der Nato, die jeder dem allgemeinen Gewaltverbot unterliegen, wären insofern verpflichtet zu prüfen, ob das Selbstverteidigungsrecht nicht mißbräuchlich in Anspruch genommen wird, weil vielleicht dem Sicherheitsrat die Möglichkeit verweigert wird, in Zusammenarbeit mit dem betroffenen ständigen Mitglied notwendige Maßnahmen zur Bekämpfung internationaler terroristischer Gewalt zu organisieren. Gemäß jenem Verbot sind sie zudem als verpflichtet anzusehen, auf eine Organisation solcher Maßnahmen durch den Sicherheitsrat ständig hinzuwirken. Anders liefe das allgemeine Gewaltverbot in entscheidenden internationalen Konfliktsituationen leer; militärische Gewalt insbesondere ständiger Mitglieder des Sicherheitsrates entzöge sich internationaler Kontrolle.

Die genannten Verpflichtungen können andererseits auch als Rechte einfacher Mitglieder der Vereinten Nationen aufgefaßt werden, hegemonialen Ansprüchen ständiger Mitglieder des Sicherheitsrats entgegenzutreten. Sie zeigen gleichzeitig rechtliche Vorbehalte und Grenzen der viel beschworenen Bündnissolidarität auf. Für die Bundesrepublik ergeben sie sich überdies noch aus dem verfassungsrechtlichen Verbot des Angriffskrieges. Wird es verletzt, stellt sich noch die Frage nach der Strafbarkeit der Entscheidenden.

Die berufene „zivilisierte Welt“ scheint sich in der Sanktion und Abwehr der terroristischen Anschläge vom 11. September noch nicht „zivilisiert“ organisieren zu können, d. h. diese in einem staatengemeinschaftlichen Verfahrensgang vorzubereiten und durchzuführen. Statt die Anschläge als verbrecherische Handlungen im Rahmen der Vereinten Nationen kontrolliert zu verfolgen, wird gegen sie in Art von Kriegshandlungen mit kriegerischen Mitteln aus einer hegemonialen Stellung des betroffenen Staates vorgegangen. Damit aber werden nur Gründe verstetigt, die zumindest auch Anlässe für die Anschläge waren, ohne daß sie diese allerdings rechtfertigen könnten. Je weniger sich eine hegemoniale Macht internationalen Bindungen unterstellt, desto mehr wird sie sich Anfeindungen aussetzen, da sie ohne solche Bindungen als bedrohend und auch als demütigend erfahren werden muß. Sie setzt sich zu den weit weniger Mächtigen gleichsam in einen angreifbaren Naturzustand. Greift eine hegemoniale Macht und Mächtegruppierung auch hegemonial zu Sanktionen, wird deshalb einer Befriedung der Staatenwelt wenig gedient: „dauerhafte Freiheit“ ist kaum das Ergebnis.

 

Prof. Dr. Ulrich Penski, Jahrgang 1934, lehrt Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Siegen. Er ist Mitverfasser von „Staat, Wirtschaft und Gesellschaft“, 6. Aufl. 1986.


 
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