© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/01 16. November 2001

 
Vormarsch ins Ungewisse
Afghanistan-Krieg: Die strategischen Optionen der USA / Die Nordallianz wird zum Risikofaktor
Michael Wiesberg

Über einen Monat nach Beginn der US-Luftoffensive gegen Afghanistan sieht sich die Regierung Bush einer wachsenden Kritik an ihrem militärischen Vorgehen ausgesetzt. Kritiker aus dem linken politischen Spektrum der USA und Westeuropas beklagen den Tod unschuldiger Afghanen. Zusätzlich angeheizt wird die Diskussion durch die Frage, ob die Bombardements der US-amerikanischen und britischen Luftwaffe auch während des Ramadans weitergeführt werden sollten. Und schließlich ist auch die Frage, ob es sich bei der „Nordallianz“, die gerade die strategisch wichtige Stadt Masar-i-Scharif und die Hauptstadt Kabul von den Taliban-Milizen zurückerobert hat, derjenige Verbündete am Boden ist, dem die USA und ihre Allierten vertrauen könnten.

Trotz der Einnahme dieser beiden Städte hat die Kombination von Bombardements, Angriffen der Nordallianz und dem Einsatz kleinerer US-amerikanischer bzw. britischer Spezialeinheiten bisher keinen wirklich durchschlagenden Erfolg gebracht. Immer wieder gab es deshalb in den zurückliegenden Wochen Hinweise durch US-Verteidigungsminister Rumsfeld, daß der Einsatz von Bodentruppen ernsthaft erwogen werde. Der herannahende harte Winter spricht allerdings gegen einen militärischen Erfolg größerer US-amerikanischer und alliierter Truppenkontingente in Afghanistan. Vor diesem Hintergrund dürfte es zu einem Einsatz größerer Verbände von Bodentruppen wohl nicht vor Frühjahr nächsten Jahres kommen. Bis dahin werden die Verbände der Nordallianz weiter alleine die Hauptlast des Bodenkrieges gegen die Taliban zu tragen haben.

Verschiedene Kommentatoren in den USA vertreten die Auffassung, daß etwa 500.000 Soldaten notwendig sein werden, wenn ganz Afghanistan erobert werden soll. Afghanistan, kaum kleiner als der US-Bundesstaat Texas, hat seinen Ruf, ein geographischer Alptraum für jeden potentiellen Angreifer zu sein, bereits des öfteren unter Beweis gestellt. Angrenzend an sechs Staaten (Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, China, Pakistan und Iran), besteht das Landesinnere vorwiegend aus Gebirgsregionen. Der Südwesten des Landes ist durch hohe Gebirge gekennzeichnet, die sich vom Hindukusch her ausbreiten. Kaum geringer sind die Erhebungen entlang der nordöstlichen Grenze zu Pakistan. Dazu kommen erhebliche Temperaturschwankungen, die Nichteinheimischen erheblich zu schaffen machen.

Kommunikations- und Transportmöglichkeiten sind in diesem Gelände sehr eingeschränkt. Das Straßennetz in Afghanistan umfaßt etwa 21.000 Kilometer, von denen nur ca. 3.000 Kilometer geteert sind; weniger als 30 Kilometer Autobahn verbinden Afghanistan mit Turkmenistan und Usbekistan. Außerdem verfügt das Land über 45 Flugplätze, von denen zehn über geteerte Landebahnen verfügen. Erwähnenswert sind weiter das Netz von etwa 180 Kilometer langen Erdgas-Pipelines, die von Turkmenistan und Usbekistan aus durch Afghanistan verlegt worden sind.

Von erheblicher Bedeutung für die Planung militärischer Aktionen ist auch die komplexe Bevölkerungsstruktur Afghanistans. Die rund 27 Millionen Afghanen gliedern sich nach Angaben der CIA in etwa 38 Prozent Paschtunen, 25 Prozent Tadschiken, 19 Prozent mongolischstämmige Hesoren, 6 Prozent Usbeken und 12 Prozent andere ethnische Minderheiten. Die Taliban bestehen hauptsächlich aus Paschtunen, die auch einen beträchtlichen Bevölkerungsanteil in Pakistan stellen. Große Teile der Taliban wurden ideologisch in den Koranschulen in der Peschawar-Region im nördlichen Pakistan geschult. Die Nordallianz hingegen besteht vorwiegend aus Tadschiken, Hesoren und Usbeken. Dies erklärt die Zurückhaltung Pakistans gegenüber der nichtpaschtunischen Splittergruppe namens „Nordallianz“. Hier liegt auch der Grund für die stillschweigende und verdeckte Unterstützung der Taliban durch Pakistan. Islamabad hat kein Interesse daran, im Norden an einen Staat Afghanistan anzugrenzen, mit dem Interessengegensätze bestehen.

Auf diese Interessen hat auch US-Präsident Bush Rücksicht zu nehmen, will er Pakistan in der Anti-Terror-Koalition halten. Völlig unklar ist derzeit, wie die USA sich verhalten werden, wenn die Nordallianz auf eigene Faust in Richtung Kabul marschieren sollte. In Kabul ist die Nordallianz allerdings bei weiten Teilen der (noch verbliebenen) Einwohner aufgrund der Erfahrungen im Bürgerkrieg verhaßt.

Die mangelnde eigene militärische Präsenz der USA und ihrer Alliierten am Boden droht aufgrund der mangelnden Akzeptanz der Nordallianz bei dem paschtunischen Bevölkerungsanteil eine Entwicklung einzuleiten, die das erklärte Ziel der USA, die Eliminierung der Taliban und die „Ausmerzung“ Osama bin Ladens samt seiner Terrororganisation al-Quaida, gefährden könnte.

Eine substantielle militärische Wende blieb bislang aus

Der Fokus der militärischen Aktivitäten der USA lag bisher vorwiegend auf dem Bombardement militärischer Einrichtungen der Taliban. Spezialeinheiten haben spezielle Aufklärungsmissionen ausgeführt, haben die Truppen der Nordallianz militärisch beraten, ausgerichtet und haben an direkten militärischen Missionen wie dem Angriff auf den Flugplatz von Kandahar teilgenommen. Die Hoffnung, daß derartige Angriffe ein wichtiger Impuls für die Nordallianz seien und für einen nachhaltigen Eindruck bei den paschtunischen Gegnern der Taliban sorgen könnten, hat sich freilich nur zum Teil (Masar-i-Scharif) erfüllt. Eine substanzielle militärische Wende zugunsten der USA und ihrer Alliierten ist bisher ausgeblieben. Daran ändert auch der derzeitige Vormarsch der Nordallianz nichts. Wie lange dieser anhält, kann derzeit nicht abgeschätzt werden.

Das strategische Ziel des derzeitigen Krieges gegen den Terrorismus wird aus Sicht der USA von der Notwendigkeit diktiert, Afghanistan als sicheren Hafen des al-Quaida-Netzwerkes unter Aufbietung aller notwendigen Mittel auszuschalten. Deshalb muß die USA vor Einbruch des Frühlings militärische Pflöcke einschlagen, um ihrem Ziel näher zu kommen, die von den Taliban gewährte Schutzzone für Terroristen zu eliminieren. Luftüberlegenheit alleine, die in den Kriegen gegen den Irak und Jugoslawien Erfolgsgarant war, wird diesmal nicht ausreichen, um die selbst gesetzten Ziele zu erreichen.

Am Einsatz von US- und alliierten Bodentruppen, die aus der Luft zu unterstützen sind, dürfte kein Weg vorbeigehen. Dieser Krieg wird sich deshalb aller Voraussicht nach zu einer langwierigen Auseinandersetzung entwickeln. Nach Auffassung von Michael P. Noonan, Mitarbeiter am Foreign Policy Research Institute in Philadelphia, gibt es allerdings drei strategische Aufgaben, deren Umsetzung die USA noch vor Anbruch des Winters auf dem afghanischen Kriegsschauplatz unbedingt näher kommen müßten.

Pakistan soll diplomatisch ruhiggestellt werden

Eines dieser Ziele betrifft Kandahar. Diese Stadt sei, so Noonan, von entscheidender politischer und kultureller Bedeutung für das Taliban-Regime. Kandahar, im südlichen Teil Afghanistans gelegen, ist nicht nur die Heimatstadt von Mullah Mohammed Omar, dem religiösen Führer der Taliban. Eine Einkreisung der Stadt oder eine Besetzung könnte der Behauptung der Taliban, die Amerikaner seien schwach und unfähig, den Boden entziehen. Die Ausschaltung der Stadt würde weiter eine zweite Front gegen die Taliban am Boden eröffnen, die zur Zeit nur durch die Truppen der Nordallianz gebunden werden. Gleichzeitig würde mit der Eroberung von Kandahar die Möglichkeit effektiverer Nachschubwege und einer verbesserten Unterstützung von Bodentruppen aus der Luft gewährleistet werden.

Noonan, der sich intensiv mit der Geographie Afghanistans und den Machtstrukturen der Taliban beschäftigt hat, schlägt als Initialzündung zur Eroberung von Kandahar einen Luftangriff vor. Wenn der Flugplatz genommen sei, sollten Spezialeinheiten wie die US-Marines, die im Häuserkampf geschult seien, die Stadt in Besitz nehmen. Noonan empfiehlt, bei einer derartigen Aktion Pakistan diplomatisch ruhigzustellen, dieses Thema aber nicht überzubewerten. Pakistans Interessen dürften keinen Vorrang bei notwendigen strategischen Maßnahmen im Zuge des Krieges gegen den Terrorismus haben.

Die zweite Forderung Noonans ist inzwischen Realität: die Eroberung Masar-i-Sharif. Im Mittelpunkt des Interesses steht hier der von den Sowjets angelegte Flugplatz. Deshalb ist Masar-i-Sharif von entscheidender Bedeutung für die logistische Unterstützung US-amerikanischer oder alliierter Operationen in Afghanistan. Ein weiterer Aspekt ist die unmittelbare Nähe zu Kheyrabad, das als Endstation einer Eisenbahnverbindung mit der im südlichen Usbekistan gelegenen Stadt Termiz dienlich sein könnte. In Verbindung mit der Unterstützung durch Usbekistan könnte Kheyrabad als Nachschubzentrum für militärische Operationen dienen. Gelänge es den USA und ihren Alliierten, so Noonan, diese Stadt zu nehmen, würde dies die Taliban empfindlichen schwächen.

Als dritte strategische Größe führt Noonan den Rauschgiftanbau an. 1999 überrundete Afghanistan Burma als weltgrößten Opium-Produzenten. Rund 1.670 Tonnen Rohopium wurden 1999 auf über 50.000 Hektar Anbaufläche gewonnen. Auch wenn die Nachrichtenlage differiert: es kann aber davon ausgegangen werden, daß das Taliban-Regime und die Terrororganisation al-Quaida 1999 mindestens eine Milliarde Dollar aus dem Rauschgiftgeschäft eingenommen haben.

Noonan schlägt deshalb vor, diese Geldquelle mit Stumpf und Stiel zu beseitigen. Napalm sollte eingesetzt werden, um die Anbaufelder und die Lagerdepots zu vernichten. Auch für diese wichtige Mission sollten „Special Forces“ eingesetzt werden, um die Anbaufelder ausfindig zu machen und die Luftwaffe entsprechend instruieren zu können. Sogenannte Kollateralschäden könnten auf diese Weise reduziert werden. Eine Realisierung dieser strategischen Ziele würde es den US-Einheiten und ihren Alliierten in der Tat erlauben, groß angelegte Bodenoperationen auch in den Gebirgsregionen des Landes auszuführen.

Die Eroberung von Kabul und Masar-i-Sharif hat die Einrichtung vorgeschobener Operationsbasen ermöglicht, mittels derer militärische Operationen im ganzen Land ausgeführt werden könnten. Weiter können afghanische Flüchtlinge über diese beiden Städte versorgt werden und damit der Taliban-Propaganda sukzessive der Boden entzogen werden.

Noonan kommt zu dem Schluß, daß etwa 30.000 bis 40.000 Soldaten reichen müßten, um diese strategischen Ziele zu erreichen. Zum einen konterkarierten sie den Versuch der Taliban, sich während des Winters als moralische Sieger in Szene zu setzen. Zum anderen würden die militärische und die politische Position der Taliban während der harten Wintermonate geschwächt. Weiter könnte die militärische Präsenz der USA in den Golfstaaten verringert werden, was zu einem Abbau der Reibungspunkte mit den dortigen Regierungen bzw. der Bevölkerung führe. Die Präsenz von US- oder alliierten Bodentruppen in Afghanistan wäre zudem eine Ermutigung für die Nordallianz, die dieser erlaubte, den Krieg gegen die Taliban auf andere Regionen des Landes auszudehnen. Und schließlich sei auch die Schockwirkung derartiger Erfolge auf die Taliban und Bin Laden nicht zu unterschätzen. Bin Ladens eigene Einheiten, bekannt als Brigade 055, könnten zum ersten Mal empfindliche Verluste erleiden.

Die USA müßten sich davon verabschieden, so Noonan, daß Luftüberlegenheit alleine einen Krieg entscheide. Der schmutzige Krieg auf dem Boden müsse geführt werden, wenn der Sieg im Kampf gegen den Terrorismus errungen werden soll. Dieser Bodenkrieg dürfe nicht der Nordallianz überlassen werden, die Ziele verfolgen, die nicht mit denen der USA kompatibel sind. Inwieweit freilich die „westliche Öffentlichkeit“ bereit ist, die dabei entstehenden blutigen Verluste zu ertragen, wird sich erst noch zeigen müssen.


 
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