© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/01 23. November 2001

 
Der unabhängige Abgeordnete
Ruhe in Frieden
von Christian Vollradt

Gibt es ihn wirklich? Ja, zu mindest auf dem Papier, das aber bekanntlich geduldig ist. Der in letzter Zeit häufig zitierte Artikel 38 des Grundgesetzes bestimmt, daß die Abgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind“. Geboren wurde der unabhängige Abgeordnete im Liberalismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Seine liebevollen Eltern waren stets von der Sorge getrieben, er werde sonst durch Abhängigkeit vom Willen anderer „zum Sendboten degradiert“ (Gerhard Leibholz).

Als er in Deutschland 1848 durch das Paulskirchenparlament ins politische Leben eintrat, entsprach er noch ganz dem elterlichen Ideal: Teil einer Honoratiorenversammlung, in der „die Gesetze aus einem Kampf der Meinungen (nicht der Interessen) hervorgehen“, wie Carl Schmitt den Sinn des Parlamentarismus beschrieb. Der freie Abgeordnete suchte sich seine Fraktion, nicht umgekehrt! Doch schon etwa hundert Jahre später nahm ihm die Partei zunehmend die Souveränität, wuchs und wuchs, und war schließlich fruchtbar und gebar den Kegel des „Parteibeamten“ (Max Weber). Der ist gehorsam gegen die Parteiführung, die ihrerseits jede Disziplinlosigkeit sofort sanktioniert, wie aktuelle Beispiele zeigen. Die Spitzen der SPD haben schließlich verstanden, was ihnen Robert Michels bereits vor 90 Jahren ins Stammbuch geschrieben hatte: „Eine kriegführende Partei ... bedarf einer straffen hierarchischen Gliederung.“ Das waren die Sterbeglocken für den unabhängigen Abgeordneten. Die Grünen gar leugneten seine Existenz gänzlich; „imperatives Mandat“ und „Rotation“ sollten an seine Stelle treten.

Ironischerweise beriefen sich nun letzte Woche ausgerechnet die vorgeblich urgrünen Gralshüter auf ihre Gewissensfreiheit - bevor sie doch dem Fraktionszwang erlagen. Ihre Begründung dafür (Erhalt des rot-grünen Reformwerks) stellt einen Höhepunkt parlamentarischer Rabulistik dar: Spürpanzer für die Schwulenehe, und weil wir aus der Atomkraft heraus-, dürfen deutsche Soldaten in den Khyber-Paß hineinsteigen. Beispiellos ist die Zustimmung zum Krieg um innenpolitischer Reformen willen allerdings nicht. Seine Stimme für die Bewilligung von Kriegskrediten begründete der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank im August 1914 mit der Hoffnung, dadurch die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts vorantreiben zu können. Von den aktuellen 336 Ja-Sagern unterscheidet ihn jedoch, daß er die Ernsthaftigkeit seiner Gewissensentscheidung untermauerte, indem er gleich nach der Abstimmung freiwillig zu den Fahnen eilte. Bereits am 3. September 1914 fiel mit Frank im Moseltal das erste Reichstagsmitglied; Opfer jenes großen Schlachtens, mit dem in Europa das Zeitalter der Massen eingeläutet wurde, das letztendlich auch den unabhängigen Abgeordneten unter sich begrub. Requiescat in pace!


 
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