© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/01 23. November 2001

 
„Streiche nie die Flagge!“
Abendländische Kamikaze-Tradition: Zur Untergangsmystik der deutschen Marine
Wolfgang Müller

Gewöhnlich wird der 9. November als deutsches „Schicksalsdatum“ für das Ende des Ersten Weltkriegs, Hitler-Putsch, „Reichskristallnacht“ und Mauerfall reserviert. Was sonst noch an diesem Tag geschah, fällt im Schatten einer solchen Jahrhundertbilanz leicht nationaler Amnesie anheim. Zumal dann, wenn sich ein Ereignis so weit weg von Deutschland, am anderen Ende der Welt, zugetragen hat wie die Vernichtung des Kleinen Kreuzers „Emden“, den am Morgen des 9. November 1914 bei den Cocos-Inseln, in der östlichen Unendlichkeit des Indischen Ozeans, sein Schicksal ereilte.

Der Düsseldorfer Historiker Holger Afflerbach hat nun an Kampf und Untergang der „Emden“ erinnert, deren „Kaperfahrten“ dank auflagenstarker Vermarktung der Erinnerungsberichte Überlebender einst im kollektiven Gedächtnis so präsent waren wie die legendären Unternehmungen des „Seeteufels“ Graf Luckner (Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Heft 4/01).

Afflerbach interessiert sich jedoch weniger für die noch bis in die fünfziger Jahre wirkenden, literarisch zum „Abenteuer“ und kolonialromantischen Faszinosum stilisierten Unternehmungen im Zeichen wilhelminischer „Weltpolitik“. Für Afflerbach ist das Seegefecht am 9. November 1914 in ganz anderer Hinsicht von Bedeutung: als markantes Datum in der Mentalitätsgeschichte der deutschen Marine, die er seit dem 19. Jahrhundert von „Untergangsmystik“ geprägt sieht. Die vom stärkeren australischen Kreuzer „Sydney“ zur Strecke gebrachte „Emden“ stehe nämlich eher für eine atypische Marinetradition: Karl von Müller, der Kommandant, setzte sein Schiff, nachdem der Ausgang des ungleichen Kampfes nicht mehr zweifelhaft sein konnte, auf ein Riff, ließ die Flagge einholen, ergab sich dem Feind und rettete einem Gutteil seiner Besatzung so das Leben. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges schien Hans Langsdorff, der Kommandant des erfolgreich im Südatlantik operierenden deutschen „Westentaschen“-Panzerkreuzers „Admiral Graf Spee“ Müllers Beispiel zu folgen. Er versenkte sein Schiff am 17. Dezember 1939 in der Mündung des Rio de la Plata, weil er sich gegen anrückende, kampfkräftigere englische Einheiten chancenlos glaubte. Die Verehrung für Langsdorff, der danach mit seinem Freitod sein Handeln „verantwortete“, ist bis heute im Kreis der überlebenden Besatzungsmitglieder ungebrochen.

Doch nicht an von Müller und Langsdorff orientierte sich der Ehrenkodex des deutschen Marineoffizierskorps. Afflerbach vergleicht das Ende der „Emden“ und der „Admiral Graf Spee“ mit anderen Schlachtverläufen des Seekriegs, die wie zufällig ebenfalls in den „Totenmonat“ November und den nicht viel freundlicheren Dezember fielen. So mit dem Gefecht vor den Falklandinseln am 8. Dezember 1914, wo das deutsche Ostasien-Geschwader unter dem Namenspatron von Langsdorffs Schiff, Admiral Maximilian Graf Spee, der die „Emden“ vom chinesischen Tsingtau aus zum selbständigen Kaperkrieg in den Indischen Ozean beordert hatte, einem überlegenen britischen Verband zum Opfer fiel. Im Sinne der von Afflerbach zitierten Definition von Clausewitz, derzufolge eine Streitmacht stets dann vernichtet ist, wenn sie dem Gegner keinen entscheidenden Schaden mehr zufügen kann, war Spees Geschwader schon vernichtet, bevor der erste Schuß gegen die schnelleren und artilleristisch besser ausgestatteten Engländer fiel. Trotzdem habe sich Spee lieber zusammenschießen lassen. 2000 Seeleute hätten in den zersiebten Schiffen oder im eisigen Südatlantik einen „grausigen und sinnlosen Tod“ sterben müssen, weil ihr Admiral davon besessen gewesen sei, mit „wehender Fahne“ unterzugehen.

Das berühmteste deutsche Marinebild, Hans Bohrdts „Bis zum letzten Mann“, wo der Signalgast mit der Reichskriegsflagge in der Faust auf der sinkenden „Leipzig“ steht, habe dieses Sterben als Symbol für trotzigen Durchhalte- und Siegeswillen verklärt, der stärker sein müsse als der Wunsch zu leben. Davon angetrieben hätte die Kaiserliche Admiralität die Hochseeflotte 1918 zu einer „Todesfahrt“ gegen die Home Fleet in Marsch setzen wollen, die allein am Widerstand jener Besatzungen in Kiel und Wilhelmshaven gescheitert sei, die dann die „Novemberrevolution“ auslösten. Doch ähnlich wie das der Schiffe Spees habe sich das Schicksal des Schlachtkreuzers „Scharnhorst“ am zweiten Weihnachtstag 1943 erfüllt: Im Nordmeer von elf englischen Einheiten radargesteuert beschossen und torpediert, ließ Admiral Bey die Berliner Seekriegsleitung wissen: „Wir kämpfen bis zur letzten Granate“. Der so geschlagene, mit 1932 Opfern bezahlte, nur von 36 Matrosen überlebte „Endkampf“ habe an „die untersten Kreise, an die dunkle Eiswüste in Dantes Inferno erinnert“. Nicht viel anders verlief der Todeskampf der „Bismarck“ im Mai 1941: Auf dem manövrierunfähigen Schlachtriesen herrschte zuletzt eine Stimmung wie in einer Hinrichtungszelle in der Nacht vor der Exekution. Der Flottenchef, Admiral Günther Lütjens, handelte unbeirrbar konsequent gemäß der sofort nach Langsdorffs Freitod erlassenen Weisung der Seekriegsleitung: „Das deutsche Kriegsschiff kämpft unter vollem Einsatz seiner Besatzung bis zur letzten Granate, bis es siegt oder mit wehender Fahne untergeht.“ Lütjens, der seit seiner Jugend von einem solchen Ende träumende „Bismarck”-Kommandant Ernst Lindemann und 2200 Mann seiner Männer seien ein Opfer solcher „Untergangsmentalität“ geworden.

Wohl wegen dieser „fanatischen“ Opferbereitschaft, die Afflerbach mit Blick auf die Kollektivselbstmorde japanischer Heeressoldaten während des pazifischen Inselkrieges und das Selbstopfer der Kamikaze-Flieger als „Zeichen einer gänzlich fremden Kultur“ wertet, habe Adolf Hitler Marineoffiziere zu Kommandanten der Atlantik-Festungen ernannt und einen Großadmiral, Karl Dönitz, zu seinem Nachfolger. Die besondere Affinität des Ehrenkodex der Kriegsmarine zur NS-Vorstellung von „Sieg oder Untergang“ hätte ihm wohl dafür gebürgt, daß das Reich „niemals kapitulieren“ werde. Afflerbach zufolge hätten in der deutschen Kriegsmarine mit ihrer Untergangsmentalität - also lange vor 1933 - ausgeprägte NS-Dispositionen geherrscht.

Daß auch die Marine anderer Nationen den Mythos des Untergangs mit „wehender Flagge“ pflegte, daß also eine „selbstmörderische Ehrtradition“ das militärische Denken auch im abendländischen Kulturkreis bestimmte, wird von Afflerbach gegen eine spezifisch deutsche Tradition der „Götterdämmerung“ selbst ins Feld geführt.

Darüber hinaus wäre zu beachten, daß Brest, die wichtigste, von Erich Kuby wie von Lothar-Günther Buchheim literarisch als Anti-Mythos installierte Atlantik-Festung, von Bernhard Hermann Ramcke, einem General der Fallschirmjäger, gehalten wurde. Der Schleswiger Bernhard Ramcke war zwar aus der Marine hervorgegangen, hatte sich seit 1939 aber einen Ruf als gegen sich und seine Soldaten unerbittlicher, NS-konformer „Landkrieger“ erworben. Darum war für Ramckes „Fanatismus“ nicht die Marinetradition bestimmend, sondern eine ihn dem obersten Kriegsherrn empfehlende ursprünglichere „Gläubigkeit“, die den Nationalsozialismus als politische Religion auffaßte. Daß die - in der Bundesmarine noch bis 1969 nachweisbare (Marinedienstvorschrift 400/1: „Streiche nie die Flagge!“) - „Untergangsmystik“ des Marineoffizierskorps die weltanschauliche Nähe zum Nationalsozialismus begünstigte, mag man deshalb mit Afflerbach für diskutabel halten. Um die Wurzeln dieser abendländischen Variante des „Fundamentalismus“ aufzuspüren, muß man aber sehr weit über die Marinegeschichte hinaus zu den Ursprüngen totalitären Denkens vorstoßen, wo die Grenzen zwischen Politik und Religion aufgehoben wurden.

Fototext: Panzerschiff „Admiral Graf Spee“, Rio de la Plata, Dezember 1939: Besatzung ausnahmsweise gerettet


 
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