© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/01 30. November 2001

 
„Schule des Hasses“
Heinz Nawratil über die neue ZDF-Serie zur Vertreibung der Deutschen und die wahren Hintergründe für den Völkermord
Moritz Schwarz

Herr Dr. Nawratil, unter dem Titel „Die große Flucht“ läuft im ZDF eine fünfteilige Dokumentation über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Doch hinter Worten wie „Flucht“ und „Vertreibung“ verschwindet, daß es sich auch um einen Völkermord handelt.

Nawratil: Das ist leider richtig. Vertreibung bedeutet nicht nur Aussiedlung, sondern auch Mord, Terror, Vergewaltigung und Folter, Deportation und Internierung. Insgesamt kamen bei der Vertreibung fast drei Millionen Deutsche um. Eine Zahl, die alleine das Wort Völkermord schon rechtfertigt. Im Reich war in Ostpreußen der Terror der Roten Armee wohl am schlimmsten. Wer nicht flüchtete, wurde mit einer Wahrscheinlichkeit von gut fünfzig Prozent ermordet. In Königsberg war es besonders schlimm, dort fand die Rote Armee bei der Eroberung der Stadt noch etwa 110.000 Deutsche vor, ein Jahr später lebten davon noch ungefähr 10.000. In Ostbrandenburg, heute Polen, betrug die Sterberate immerhin noch 35 Prozent. Flucht war also dringend geboten. Aber selbst dabei kamen Hunderttausende um. Bombardiert, torpediert, zusammengeschossen, von Panzern überrollt und zerquetscht - allein 50.000 Menschen brachen bei der Flucht über die Kurische Nehrung durch das Eis des Frischen Haffs und ertranken im Eiswasser. Wer blieb und überlebte, wurde anschließend vertrieben, wenn er nicht das Pech hatte, interniert oder deportiert zu werden. Auch dabei kamen zigtausende um. Die Vertreibung war schon völkerrechtswidrig und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aber den damit verbundenen Völkermord vergessen wir nur allzu leicht, wenn wir von ihr sprechen.

Sie sind Autor des „Schwarzbuch der Vertreibung“. Wie bewerten Sie „Die große Flucht“?

Nawratil: Es ist schon lobenswert, daß das ZDF ein so bedeutendes, aber leider verdrängtes Kapitel der Geschichte aufgreift. Bedenklich ist dagegen die meist verharmlosende Kommentierung, die sich letztlich auf das vereinfachende Erklärungsprinzip „Aktion und Reaktion“ reduziert und damit wohl eher der heutigen politischen Moral genüge tun will als der objektiven Darstellung historischer Hintergründe und Zusammenhänge.

Was meinen Sie mit „Aktion und Reaktion“?

Nawratil: Daß die Untaten der NS-Besatzungsherrschaft natürlich auch Rachegefühle weckten, ist selbstverständlich. Aber hier wird der historisch falsche Eindruck erweckt, der Völkermord und die Vertreibung der Deutschen sei eine quasi naturgesetzliche Folge vorausgehender Ereignisse gewesen. Auch Hitler hat seine Verbrechen in Rußland so begründet.

Bereits im März dieses Jahres lief im ARD die dreiteilige Dokumentation „Die Vertriebenen - Hitlers letzte Opfer“. Warum findet das Thema plötzlich solche Aufmerksamkeit?

Nawratil: Bislang hatte man immer die Angst, würde dieser Völkermord einmal wirklich ins Bewußtsein der Deutschen zurückkehren und aufgearbeitet werden, würden sich die Fragen nach Bestrafung der Täter, Rückgabe des Diebesguts und vor allem nach der historischen Rolle, die man den Deutschen im derzeit favorisierten Geschichtsbild zuschreibt - nämlich nicht auch Opfer, sondern nur Täter zu sein - stellen. Inzwischen aber scheint das einschlägige Geschichtsbild und die politische Konstellation so verfestigt, daß man all diese Dinge thematisieren kann, ohne mit dem Ruf nach Gerechtigkeit behelligt zu werden. Die betroffenen Deutschen sind inzwischen meist froh, daß das Thema überhaupt noch erwähnt wird.

Also ein Handel: Verzichtet ihr auf euer Recht und akzeptiert unsere moralische Bewertung der Dinge, dann erlauben wir euch wenigstens einmal über das Trauma zu sprechen.

Nawratil: Genau, ein sublimer Betrug, bei dem man die emotionale Notlage der Vertreibungsopfer, die ja längst ins gesellschaftliche und politische Aus manövriert worden sind, ausnützt. Und die Betroffenen durchschauen das meist nicht, sondern empfinden Dankbarkeit gegenüber denen, die sie endlich einmal zu Wort kommen lassen, ohne deren Geschäftsbedingungen zu durchschauen.

Die Vertreibung ist weitgehend vergessen, die letzten Zeitzeugen sterben. Warum sollten es etablierte Medien wagen, das unliebsame Thema überhaupt noch einmal anzusprechen?

Nawratil: Die Vertriebenen und ihre Kinder machen immerhin noch etwa zwanzig Prozent unseres Volkes aus. Das ist eine große Zielgruppe, und da wird natürlich gut verdient. Immerhin gibt es auch ein Begleitbuch zur Serie, herausgegeben von Guido Knopp in sehr hoher Auflage.

Das ist ein schwerer Vorwurf.

Nawratil: Deshalb habe ich diesen Sachverhalt auch einfach nur als Tatsache in den Raum gestellt. Er legt eine gewisse Vermutung nahe, beweisen kann man das allerdings nicht. Aber Herr Knopp muß sich natürlich die Frage gefallen lassen, warum er dieses bedeutende Thema nicht schon viel früher angepackt hat.

Die Zuschauerquoten der Knoppschen Hitler-Dokumentationen sind zuletzt immer weiter gefallen. Suchte man schlicht nach einem neuen Ansatz, um Zuschauer zu gewinnen?

Nawratil: Auf jeden Fall. Nach „Hitlers Helfer“, „Hitlers Krieger“, „Hitlers Frauen“, „Hitlers Kinder“, etc. traten beim Publikum natürlich Ermüdungserscheinungen ein. Dabei ist es eigentlich nichts Schlimmes, auch an Quoten und Verkaufszahlen zu denken, nur darf das nicht damit einhergehen, die Historie als Steinbruch für Ideologen zu verwenden.

Kann man die beiden Serien des ARD und des ZDF vergleichen?

Nawratil: Bis jetzt scheint die ZDF-Serie wenigstens nicht mit so groben historischen Mängeln verunstaltet zu sein wie die der ARD.

Welche Mängel waren das?

Nawratil: Es wurden sogar Goebbels und Goering verwechselt, nachzulesen im Begleitbuch zur Serie. Das gleiche gilt für die sowjetischen Minister Litwinow und Molotow: handwerklich völlig unzureichend.

Auch in der ZDF-Geschichtsredaktion kann man sich nicht entscheiden, wie hoch man die Zahl der Vertriebenen taxieren will. Da ist mal von 12, mal von 14 Millionen die Rede, mal von einer, dann von zwei Millionen Toten.

Nawratil: Leider halten die meisten deutschen Produktionen einem Vergleich, etwa mit BBC-Produktionen nicht stand. Denken Sie nur an „The war of the century“ („Hitlers Krieg im Osten“), die unlängst auch im ARD lief: Solide Handwerksarbeit und Bemühen um Objektivität.

Kann man nicht dennoch annehmen, daß den Machern das Schicksal der Vertriebenen am Herzen liegt? Immerhin stammt die Hälfte der Knopp-Redaktion, inklusive Guido Knopp selbst, aus Vertriebenenfamilien.

Nawratil: Um nicht mißverstanden zu werden, ich glaube nicht an ein einheitliches Motiv. Da kommt eins zum anderen. Und ich billige den Machern auch subjektiv gute Absichten zu. Durch die Hintertür lanciert die Sendung, mehr oder weniger subtil, eine Form der Kollektivschuldthese, zu der man sich expressis verbis niemals bekennen würde.

Die NS-Besatzungsherrschaft in Rußland war tatsächlich gnadenlos. Da erscheint die actio-reactio-These doch durchaus plausibel?

Nawratil: Auch die Nationalsozialisten hatten beim Angriff auf die Sowjetunion die Parole ausgegeben, man müsse „Rächer sein, für alle Bestalitäten des jüdisch-bolschewistischen Systems“. Das hat wahrscheinlich auch vielen deutschen Soldaten und NS-Funktionären eingeleuchtet, und so mancher mag sich dann als Rächer gefühlt haben, wo er in Wirklichkeit nur grausam war. Damit sind die Greuel der Nazis also keineswegs geleugnet, nur der zwingende Zusammenhang zwischen ihnen und denen der Sowjetrussen.

Können Sie Beispiele dafür geben?

Nawratil: Die Macher der britischen Serie „The war of the century“ präsentierten zum Beispiel einen sowjetischen Soldaten, der Kriegsverbrechen begangen hat, und auf die Frage, ob er sich der Untaten nicht geschämt habe, antwortet er: „Nein“. „Warum nicht?“ Die Deutschen hätten das gleiche getan. Woher er das wisse? Das habe er in der Zeitung gelesen. Also Propaganda statt eigener Erfahrung. - Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch russische Soldaten haben, bei allen NS-Grausamkeiten, einfach kein entsprechendes Gegenstück auf deutscher Seite. Untersuchungen unter russischen displaced persons haben ergeben, daß diese sehr wohl zu unterscheiden wußten zwischen Wehrmacht, SS und Einsatzgruppen. Also kann das erst recht auch für eine Unterscheidung von deutschen Streitkräften und Zivilisten gelten. Weiterhin wurde festgestellt, daß es sowjetische Fronttruppen gab, die sich korrekter verhielten als die nachfolgenden Ettappe-Einheiten. Obwohl doch gerade die Fronttruppen die Hauptlast der Kämpfe zu tragen hatten. Russische Truppen in kaum umkämpften Gebieten wüteten wie wild, während manche Truppen, die harte Gefechte durchstehen mußten, relativ anständig geblieben sind. Genauso wissen wir heute, daß viele der marodierenden Einheiten aus Gebieten östlich des Urals kamen, also außerhalb des von der Wehrmacht besetzten Gebietes. Diese Soldaten können sich also wohl kaum auf die Zerstörung ihrer Heime und die Tötung ihrer Angehörigen durch die Deutschen berufen. Es gibt also eine ganze Reihe historischer Fakten, die die Pendelschlag-Theorie widerlegen.

Wenn die Erklärungsmuster, die heute in deutschen Medien dargeboten werden, also eher volkspädagogischen als historischen Charakter haben, was ist dann die wirkliche Erklärung für die Massenverbrechen der Roten Armee?

Nawratil: Da ist zunächst die menschenverachtende Grundhaltung des Sowjetsystems, die sich auch in anderen Ländern gezeigt hat. Was in Deutschland dazukommt, ist vor allem die Propaganda. Es ist bekannt, daß die Sowjetsoldaten mit Haß- und Mordpropaganda geradezu überschüttet wurden: „Brenne verfluchtes Deutschland“ heißt es da, oder „Das Land der Faschisten muß zur Wüste werden“. Flugblätter forderten: „Töte den Deutschen wo Du ihn antriffst, erschlage ihn auf der Straße, im Hause sprenge ihn mit einer Granate, stich das Bajonett in ihn, spalte ihn mit dem Beil, setze ihn auf den Pfahl, zerschneide ihn mit dem Messer! ... Zerdrücke, zerspalte, zersteche ihn!“ Der Völkermord in Ostpreußen war also weder zwangsläufiges Ergebnis eines Pendelschlags der NS-Besatzungspolitik, sondern Produkt einer jahrelangen, gezielten Haßkampagne.

Sie sprechen im „Schwarzbuch der Vertreibung“ von einer „Schule des Hasses“?

Nawratil: „Die Schule des Hasses“, so hieß das richtungsweisende Werk von Michail Scholochow. Tatsächlich bildete sich unter Literaten und Journalisten so etwas wie eine „Schule des Hasses“ gegen die Deutschen. Der bekannteste unter ihnen ist natürlich Ilja Ehrenburg: „Für uns gibt es nichts Lustigeres als deutsche Leichen“. Einmal schlägt er vor, die Deutschen als Untermenschen zu behandeln, ein anderes Mal die Deutschen als Rasse zu vernichten und den letzten „Fritz“ im Zoo auszustellen. Dann vergleicht er sie mit dem Pestbazillus, die Rote Armee habe dagegen die Rolle des Louis Pasteur. „Töte den Deutschen“ - in dieser Forderung schienen sich, so berichteten ausländische Beobachter, für die Sowjetmenschen alle zehn Gebote zu vereinigen. Alexander Solschinizyn berichtet im „Archipel Gulag“, nach drei Wochen Krieg in Deutschland habe jeder Bescheid gewußt: Deutsche Mädchen dürfe man vergewaltigen und danach erschießen, und das gelte fast noch als kriegerische Tat.

Es haben nicht alle Sowjetsoldaten so gehaust.

Nawratil: Nein, das hing meist vom Kommandeur ab. Es gab sogar einzelne, die sich aufgelehnt haben, so stützt sich die Anklage eines sowjetischen Militärgerichtes gegen Lew Kopelew im April 1945 unter anderem auf „Verteidigung der Deutschen und Hetze gegen den Schriftsteller Ehrenburg“. Es ist auch überliefert, daß durchziehende sowjetische Einheiten die deutsche Bevölkerung warnten: „Die nach uns kommen, sind schlecht“ oder „Nach uns kommen Stalinschüler“. Gemeint waren politisch besonders indoktrinierte Einheiten. Die furchtbare Sowjet-Propaganda wird zwar auch in den Geschichtsdarstellungen der bundesdeutschen Medien nicht immer verschwiegen, kommt aber mehr oder weniger nur als Beiwerk vor.

Wieso will die populärwissenschaftliche Geschichtsschreibung in der Bundesrepublik die Bedeutung der sowjetschen Propaganda nicht einräumen?

Nawratil: Erstens weil damit die Schuld für diese Greuel bei den Sowjets und der Roten Armee läge und die Deutschen nicht mehr die einzigen Übeltäter des Zweiten Weltkrieges wären. Zweitens würde das überhaupt nicht zu der inzwischen beinahe allgemein durchgesetzten These von der „Befreiung“ passen. Vor allem aber wäre damit der Völkermord an und die Vertreibung der Deutschen nicht mehr eine Kriegsfolge, sondern ein moralisch isoliert zu beurteilendes Verbrechen, was wiederum vielleicht sogar die moralische Legitimation der europäischen Nachkriegsordnung in Frage stellen würde.

Eine nebensächliche Rolle spielt erstaunlicherweise auch der Hauptgrund für die Vertreibung: der machtpolitsche Wille der Alliierten.

Nawratil: Das ist richtig, spätestens hier wird das Pendelschlag-Muster vollends absurd, denn die Vertreibung war ein kühl kalkulierter politischer Plan, ein Instrument des Siegers gegen den Besiegten. Mit der Qualität der Besatzungsherrschaft oder der Kriegsschuldfrage hatte das nichts zu tun.

Verantwortlich ist nicht nur Stalin, sondern auch der Nationalismus unserer Nachbarn.

Nawratil: Womit wir beim Thema des aggresiven Panslawismus wären. Der Terror wurde gezielt eingesetzt. So äußerte der polnische Exildiplomat, Jan Karski, Anfang 1943 gegenüber Präsident Roosevelt: „Wir haben vor, im Augenblick des deutschen Zusammenbruchs einen kurzen, sehr schrecklichen Terror gegen die Deutschen zu organisieren, so daß sie freiwillig ihr Land verlassen.“ Es lagen entsprechende Annektionspläne schon lange vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in den Schubladen. Kein seriöser Historiker bezweifelt heute noch, daß die polnische Regierung schon vor dem 1. September 1939 von der Oder/ Neiße-Grenze träumte. Die Sowjetunion verhandelte mit Frankreich bereits vor Ausbruch des Krieges über eine Westausbreitung der UdSSR. Frankreich war einverstanden, wenn Polen entschädigt würde. Daraufhin boten die Sowjets den deutschen Osten bis zur Oder/ Neiße an. Oder nehmen Sie den tschechoslowakischen Präsidenten Edward Benesch. Er erklärte im Juni 1945 in einer Rede: „Was wir im Jahr 1919 schon durchführen wollten, das erledigen wir jetzt. Damals schon wollten wir alle Deutschen abschieben. Deutschland aber war nicht vernichtet, und England hielt uns die Hände.“ Der Krieg war also nicht Ursache, sondern nur günstige Gelgenheit für die Verwirklichung lang gehegter Pläne.

 

Dr. Heinz Nawratil geboren 1937 in Zauchtel / Mähren, wurde die Familie 1945 vertrieben. So wuchs Nawratil im bayerischen Miesbach auf und studierte Jura. Heute ist er selbständiger Notar. Durch seine Mitarbeit bei der „Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte“ und der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ widmete er sich immer wieder dem Thema ethnischer Aggression und der Unterdrückung und Vertreibung kleiner Völker. In seinem „Schwarzbuch der Vertreibung“ (Universitas, 2001) erhellt er das verdrängte Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das die Vertreibung und der Völkermord an den Deutschen von 1945 bis 1948 darstellen.

 

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