© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/01 30. November 2001

 
BLICK NACH OSTEN
Bin Laden sorgt für erneute Annäherung
Carl Gustaf Ströhm

Afghanistan, die Taliban und bin Laden machen es mög-lich: Rußland überdenkt seine Haltung zur Nato. Einer der wichtigsten geopolitischen Analysten Moskaus, Sergej Karaganow, erklärte kürzlich, die „Raketenzählerei“ zwischen Amerika und Rußland sei überholt. Präsident Putin versuche, Rußland aus dem Stadium des „nicht beendeten Kalten Krieges“ mit den USA herauszuführen und die Beziehungen zu Washington „mit den realen Zukunftsproblemen“ zu synchronisieren.

Karaganow meint, es gebe weitaus interessantere Themen als Abrüstung - nämlich: Die Nichtverbreitung von Kernwaffen, den Aufstieg Asiens, die Folgen der IT-Revolution. Und was die Nato angehe (die man bisher mit Mißtrauen betrachtete), so könne Rußland sogar Mitglied des Bündnisses werden - falls es sich von Grund auf ändere. Dann könnte die Nato „Grundlage einer neuen Sicherheit des 21. Jahrhunderts“ werden.

Die Briten, die nicht erst seit dem 11. September als US-Juniorpartner auftreten, sind bereits dabei, den „neuen Russen“ goldene Brücken zu bauen: Premier Tony Blair und sein Landsmann, Nato-Generalsekretär Lord Robertson, wollen den Russen als Gegenleistung für die Kooperation bei der Terror-Bekämpfung ein Mitsprache- und sogar Vetorecht innerhalb der westlichen Allianz konzedieren. Bei einer zweiten Nato-Osterweiterung, so Robertson, sollte alles vermieden werden, was die künftige Zusammenarbeit mit Rußland behindert. Anders gesagt: Wenn die Balten aufgenommen werden, müssen ihre Interessen jenen Rußlands untergeordnet werden.

Das russische Echo auf solche Avancen klingt jetzt ganz anders, als noch vor wenigen Monaten. Ein amtlicher Repräsentant des Moskauer Außenamts sprach vom „Potential einer Allianz mit Rußland“ und von einem „einheitlichen euroatlantischen Sicherheitsraum“, dem Rußland angehöre. Rußland und die Nato hätten gemeinsame Antworten auf die neuen globalen Herausforderungen - vom Terrorismus bis zum Balkan.

Einige mittel- und osteuropäische Staaten - die Balten an erster Stelle - sind über die neue russische Liebesaffäre der Nato keineswegs begeistert, am Gang der Dinge dürften sie aber kaum noch etwas ändern. Putin hat verstanden, daß er sein Land nur dann aus dem Zustand der Zerrüttung herausführen kann, wenn er die Rolle Amerikas als erster und einziger Weltmacht akzeptiert, jedenfalls zunächst. Er braucht die USA - aber inzwischen brauchen die Amerikaner auch ihn. Rußland ist den USA zwar unterlegen, aber es ist die einzige Macht (mit Ausnahme Chinas), die über genügend Raum und Menschen verfügt. Objektiv ist Rußland durch die US-Aktionen in Afghanistan gestärkt worden - den Amerikanern fällt es jetzt schwerer, sich über Moskauer Wünsche hinwegzusetzen.

Die Europäer und besonders die Deutschen spielen in diesem Zusammenhang eine recht bescheidene Rolle. Es gibt zwar nachdenkliche Russen, die es inzwischen für einen kapitalen Fehler der seinerzeitigen Kreml-Politik halten, das Deutsche Reich vernichtet zu haben. Damit habe die damalige Sowjetunion nicht nur das eigene Volk in einen riesigen Gulag gesperrt, sondern den USA den Weg zur Weltherrschaft geebnet.

Putin mag mit den Deutschen flirten - sein eigentlicher Partner sind die USA, niemand sonst. So zynisch es klingen mag: Für den Kreml war dieser 11. September ein Glücksfall. Der Rest der Welt mag sinnieren, was es bedeutet, wenn der Stärkste und der Zweitstärkste gemeinsam gegen „Terroristen“ zu Felde ziehen. Übrigens: Wer bestimmt, wer Terrorist ist?


 
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