© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/01 30. November 2001

 
Spurensuche im Schattenland
Eine Aufsatzsammlung über die literarische Provinz Ostpreußen
Matthias Bäkermann

In der Blütezeit der Weimarer Republik erschien 1926 im Königsberger Verlag von Gräfe und Unzer ein „Ost- und westpreußisches Dichterbuch“, das einen Querschnitt durch das literarische Schaffen der Provinz bringen wollte. 65 Beiträge verzeichnet der Band, deren Autoren meisten kaum mehr als Gelegenheitspoeten und Heimatdichter waren.

Literaturhistorischen Nachruhm dürfen unter ihnen nur Agnes Miegel, Arno Holz, Max Halbe, Hermann Sudermann, Alfred Brust, Rolf Lauckner und Walther Harich beanspruchen. Aber wer kennt noch, ungeachtet einstiger Bestsellererfolge, Friedrich Reck-Malleczewen, Gertrud Prellwitz, Arthur Brausewetter, Agnes Harder oder Johanna Wolf? Wer noch einst einflußreiche Vermittler wie den Königsberger Redakteur Ludwig Goldstein oder Carl Lange, den Herausgeber der „Ostdeutschen Monatshefte“? Achselzucken erhielte man wohl auch zur Antwort, wenn man das Fragespiel anhand einer jüngeren Anthologie, „Land der dunklen Wälder... Ostpreußische Dichtung unserer Zeit“, erschienen 1941, wiederholte. Hinzugekommen waren zwar viele junge Erzähler, die im östlichen Bauern- und Fischermilieu ihren Stoff gefunden hatten, wie Paul Brock und Hansgeorg Buchholtz - unter ihnen ein paar markige Blut- und Boden-Epiker wie Alfred Karrasch oder Erich Karschies - und die begeisterte Nationalsozialistin Anne Marie Koeppen. Auch die heute noch das Ostpreußenblatt beliefernde Ruth Geede, Dialektschreiber wie August Schukat oder Max Bialluch gehörten ebenso dazu wie zwei überregionale Größen, der aus Elbing stammende Berliner Feuilletonpapst Paul Fechter sowie - mit einem gewissen Erstaunen nimmt man den zeitweiligen KZ-Häftling in diesem vom „Landeskulturverwalter Gau Ostpreußen“ ausgewählten Umkreis wahr - der Romancier und „innere Emigrant“ Ernst Wiechert. Doch, wer herabblickt vom Olymp der „Hochliteratur“, schaut auch hier ins literarische Liliput.

Wer sich ungeachtet dessen, wie die von Frank-Lothar Kroll edierte Aufsatzsammlung dies im Untertitel verspricht, am Beispiel Ostpreußens um die „Facetten einer literarischen Landschaft“ bemüht, steht also vor der Alternative, sich entweder zum x-ten Mal mit Miegel, Wiechert und wenigen anderen zu beschäftigten, die auch „im Reich“ Leser und Kritiker fanden, oder er kümmert sich um die Scharen jener Poeten, die die Heimat-Anthologien füllten. Der Herausgeber entschied sich tendenziell für die illustre Runde und wählte Wiechert, Holz und Loerke unter den Älteren, Johannes Bobrowski und Siegfried Lenz unter den Jüngeren aus. „Literarische Landschaft“ wird damit allerdings nicht erschlossen, wenn darunter die Vielschichtigkeit regionaler Kultur zu verstehen ist, wie sie Verlage, Zeitungen, Heimatzeitschriften, Rundfunksendungen, literarische Gesellschaften und eben jene zumeist „für den Tag“ und nicht selten auch für wechselnde politische Anlässe produzierenden Lehrer, Redakteure, Landwirte, Ärzte und Justizsekretäre, eben die Bialluchs und Brocks, prägen. Die Literatur und ihr „Sitz im Leben“, die enge Verzahnung zwischen literarischer Alltagskultur und politischer Zeitgeschichte würde dann thematisiert, und nicht nur, wie in dieser Aufsatzsammlung in zwei Studien über Ernst Wiecherts Beziehungen zur Konservativen Revolution und über August Winnigs Ostpreußen-Erlebnis in den Erinnerungsbüchern des sozialdemokratischen Oberpräsidenten, fast zufällig gestreift.

Auch Agnes Miegel, hier demonstrativ übergangen und von Ernst Ribbat politisch allzu korrekt benotet, könnte dann unabhängig vom Urteil darüber, ob ihr nur einige schon 1914 ästhetisch „überholte“ neuromantische Balladen gelangen, oder ob sie durch „praktizierten Antisemitismus“ mithalf ihre Vaterstadt Königsberg als literarischen Ort zu vernichten (Ribbat), gerade als Repräsentantin heimatgebundener Dichtung zum Objekt rezeptionsgeschichtlicher Untersuchungen werden.

Ribbat deutet dafür selbst die Richtung an: Welche literaturpolitischen Prozesse und Interessen „installieren“ Agnes Miegel als „Mutter Ostpreußens“ schon vor der Vertreibung? Wie formen Miegel, ihre Multiplikatoren und dichtenden Nachahmer das Wahrnehmungsmuster vom „Land der dunklen Wälder“, das Konglomerat der Natur- und Geschichtsstereotypen, das regionale „Identität“ noch lange über 1945 hinaus stiftet? Nur solche Fragen führen literaturhistorische Erkundungen ins Zentrum einer literarischen Provinz, während die in diesem Band dominierende Orientierung an Berühmtheiten deren Herkunfts- und Wirkungsraum mitunter wie ein Schattenland aussehen lassen.

Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Ostpreußen. Facetten einer literarischen Landschaft. Duncker&Humblot, Berlin 2001, 190 Seiten, 48 Mark


 
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