© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/01 07. Dezember 2001

 
Charakterstudie mit Klischees
Kino: „Null Uhr 12“ von Bernd Michael Lade pendelt zwischen den Genres
Claus-M. Wolfschlag

Ein Überfall auf einen Geldtransporter, bei dem 30 Millionen erbeutet werden. Fünf junge Menschen, wartend, auf einem U-Bahnsteig um Null Uhr 12, scheinbar ohne Verbindung zueinander, eingefangen von einer Überwachungskamera. Was haben diese beiden Ereignisse miteinander zu tun? Anscheinend einiges, so empfindet Ben, der Kommissar, der seinen Kollegen „Festnehmen“ und schließlich „Beschatten“ befiehlt. Der Zuschauer wechselt fortan in die Perspektive von Fahndern, erhält Einblick in das Leben von drei Männern und zwei Frauen, alle fünf noch jung, doch sehr verschieden in Lebensstil und -situation.

„Null Uhr 12“ beginnt als Kriminalfilm, um sich zum Versuch einer Charakterstudie ohne Pathos und Sentimentalität zu wandeln, zum Blick auf fünf Schicksale im Sog zwischenmenschlicher Beziehungen, die die Gelegenheit beim Schopfe fassen, ihre eingefahrenen, deprimierenden Leben zu ändern. Träume zerplatzen, Lügen werden wahr, wie die Verleihfirma erläutert: „Ein Schalter ist umgelegt worden, und nichts wird mehr sein wie vorher. Glaube oder Schicksal, Zufall oder Wille?“ Ein Film über die Möglichkeit des Menschen zur Veränderung seines Daseins, auch wenn „Fünf vor 12“ schon vorüber ist, ein Film über verlorene Zeit auch.

Der Wille der Filmemacher ist vorhanden, doch für eine echte Charakterstudie wirken die fünf Hauptdarsteller letztlich eine Spur zu konstruiert, erscheinen anfänglich den Verdächtigen eines Agatha-Christie-Krimis entsprungen. Nicht dekadente Gräfinnen, zwielichtige Dandys oder verschwiegene Butler bestimmen dabei die Szenerie am Anfang des 21. Jahrhunderts. Es sind die Typen der modernen deutschen Großstadt, des Schmelztiegels Berlin, deren Darstellung einer konstruktiven Aneinanderreihung entspricht: Frank (Mario Irrek), der notorische Spieler, prahlerisch und ohne Maß. Maria (Isabella Parkinson), die Computer-Programmiererin mit Familienproblemen, die ihr immenses sexuelles Verlangen zu entdecken beginnt. Martin (Dieter Landuris), der phlegmatische Reinigungsgeräte-Vertreter, dem seine nölende Frau tagtäglich sein Versagen vorwirft. Jonas (Bernd Michael Lade), der Taxifahrer und traumatisierte Kriegs-Fotograf. Und Kathrin (Meret Becker), die gestreßte Kellnerin, als alleinerziehende Mutter zwei Töchter versorgend. Diese Figuren sind marketingkonzeptionelles Programm, ohne daß dies bei der Betrachtung zu sehr stören sollte. Regisseur Lade enthüllte zu ihnen: „Ich wollte, daß sich der Zuschauer mit mindestens einer der Figuren identifizieren und sich selbst darin erkennen kann. Was den Figuren passiert, kann jedem passieren. (...) Sie sind Stellvertreter für jeden von uns.“

Doch der Zuschauer bleibt mit der Frage zurück, wie diese, unsere Stellvertreter einander getroffen haben, um ihr Werk zu verrichten, wann bei ihnen der Gedanke zur Veränderung durchbrach, welche Rolle die zwielichtigen Polizisten in dem Spiel letztlich innehaben. Und so kann sich jeder fragen, ob und wie es möglich ist, sein Leben wirklich zu ändern. Bedarf es dazu 30 Millionen Mark oder geht es womöglich auch ganz von alleine?

Hoffnungsvoll stimmt der gekonnte Einsatz der Technik. Dies, obwohl der Streifen ohne Förderung und Fremdkapital produziert wurde. Die Schnitte, das Erzähltempo, das Spiel mit den verschobenen Zeitebenen, die Uneindeutigkeit von Fiktion und Realität, all dies hat Lade vom großen amerikanischen Kino, von Filmen wie „Pulp Fiction“, gelernt. Das deutsche Kino scheint eine neue Phase der Professionalität zu erklimmen. Dennoch stecken noch alte Krankheiten im Detail, meist entnommen der „neuen deutschen Komödie“ ab Anfang der 1990er Jahre.

Vor allem die Nebenfiguren strotzen vor Klischees, sind allenfalls in ihrer Eindimensionalität als Charaktere auszumachen. Zum Beispiel die Polizisten - diesmal keine stupiden Choleriker mit Segelfliegerohren über der zu großen grünen Mütze, sondern brutale, wortkarge Glatzköpfe, die besser zur Darstellung eines russischen Mafia-Paten gepaßt hätten. Kommissar Ben fehlt noch eine weiße Perserkatze auf dem Arm, um sich als potentieller James Bond-Widerpart bewerben zu können. Nicht minder borniert auch der neureiche Kneipier, der seiner Angestellten Kathrin immer den Allerwertesten betatschen und sie mit machistischen Drohungen belästigen muß; oder Martins ausschließlich meckernde Ehefrau und sein schmieriger, latent krimineller Arbeitgeber; oder das schwätzende Schwulenpärchen, fast dem „bewegten Mann“ entsprungen. Sehr lange wird auch auf dem Eingangsschild der Psychiatrischen Anstalt verweilt, in der Marias Vater (Uwe Kockisch) schachspielend weilt. Und als ob der Zuschauer noch immer nicht über den Aufenthaltsort des paranoiden Verschwörungstheoretikers unterrichtet wäre, die Tragikkomik der Situation nicht verstanden hätte, müssen im Hinterprund noch zwei tapsige Pfleger einem in Zwangsjacke ihnen enteilenden Patienten hinterherhechten. Derartiges soll wohl als Situationsgroteske gelten, macht allerdings den Ansatz einer sensiblen, realitätsnahen Charakterstudie immer wieder zunichte.

„Null Uhr 12“ bleibt somit unentschieden zwischen den Genres. Zu unbefriedigend für einen Krimi, zu oberflächlich und klischeebeladen für ein Drama, zu ernsthaft im Anspruch für eine Komödie. Ein gefälliges, durchaus unterhaltsames und stellenweise beeindruckendes Werk ist dabei herausgekommen, professionell im technischen und schauspielerischen Niveau, aber inhaltlich leider nur Stückwerk.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen