© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/01 14. Dezember 2001

 
Afghanische Perspektiven
Von den Taliban hin zum Dschingis Khan - mit dem Segen Amerikas
Michael Wiesberg

Dies ist die Stunde des Tötens, und dem müssen wir Rechnung tragen.“ So kommentierte Ralph Peters, pensionierter Oberstleutnant der US-Armee und renommierter Militäranalytiker, im Wall Street Journal vom 13. November den Charakter der Kriegführung der „zivilisierten Welt“ in Afghanistan. „Im Moment sind wir in der glücklichen Lage“, fährt Peters fort, „daß Afghanen für uns Afghanen und ausländische Söldner töten. Anstatt sie zur Mäßigung aufzufordern, sollten wir ihnen so laut wie möglich zujubeln.“

Ein Kriegsherr wie der Usbeken-General Abdul Raschid Dostam muß allerdings nicht eigens zur Mäßigung aufgerufen werden. Mäßigung ist in einem Land, in dem die Macht seit Jahrzehnten aus den Gewehrläufen kommt, ein Fremdwort. Und so dürfte auch dem unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen auf dem Petersberg bei Bonn ausgehandelte Fahrplan zur Demokratisierung Afghanistans kaum Erfolg beschieden sein. Bereits einen Tag später kündigte Dostam an, die neue Übergangsregierung für das Land boykottieren zu wollen. Über Satellitentelefon verkündete der für seine Grausamkeit berüchtigte Kämpfer, daß er mit der Zuteilung des Landwirtschafts- und Industrieministeriums an seine Dschunbisch-i-Milli-Fraktion nicht zufrieden sei. Dostam hatte ursprünglich das Außenministerium für sich reklamiert. Der General hat keinen Zweifel daran gelassen, daß er den Vertretern der neuen Regierung den Zutritt in den Norden des Landes verweigern werde. Dessen brutale Kriegführung in den letzten Jahren des Bürgerkrieges hat dem Bauernsohn den Namen „Dschingis Khan von Afghanistan“ eingebracht.

Unberechenbarkeit ist allerdings nicht nur ein Kennzeichen Dostams. Die Eroberung von Kandahar zeigt, wie brüchig das Gefüge der Nordallianz ist. Gleich nach der Eroberung sind die siegreichen Milizen der Nordallianz dazu übergegangen, die Stadt unter sich aufzuteilen. Einen großen Teil der Stadt kontrolliert der Kommandeur und Kriegsveteran Mullah Naqibullah. Naqibullah gilt als ein den Taliban nahestehender Paschtunenführer. Diese Entwicklung läßt die Befürchtung wachsen, es könnte zu einem Endkampf zwischen Naqibullah und den Streitkräften des neu ernannten afghanischen Interim-Premiers Hamid Karsai kommen. Die Stammesführer haben zwar einen Rat gebildet, der die Differenzen beilegen soll. Ob dieser jedoch Erfolg hat, ist ebenso ungewiß wie das Schicksal von Talibanführer Mullah Omar und dem mutmaßlichen Terroristenchef Osama bin Laden.

Mit der Rolle des „nützlichen Idioten“ der USA, die Ralph Peters Dostam und den anderen Milizenführern der Nordallianz zuschreibt, dürften sich diese in Zukunft kaum zufrieden geben. Deshalb bedarf es keiner besonderen Hellsichtigkeit, daß Dostam, sollte er sich nicht in den von den USA vorgesehenen „Demokratisierungsprozeß“ einfügen, wohl der nächste sein wird, der im Namen der Demokratie von den USA beiseitegeräumt wird. Daß sich die USA hier keine falsche Zurückhaltung auferlegen sollten, ist nicht nur die Auffassung von Peters. Die wichtigste Lehre, die das amerikanische Militär aus seinen Kriegen des letzten Jahrzehnts ziehen sollte, lautet nach Peters, daß Zurückhaltung nicht besser sei als eine Niederlage: „Ein Teilsieg ist nicht mehr als eine verzuckerte Niederlage.“ Und er fährt fort: „Beim ‚Wüstensturm‘ hatten wir die Macht und den Schwung, bis nach Bagdad vorzudringen, aber wir hörten auf die Diplomaten.“

Übersetzt heißt dies: Die USA sollten ihren weltweiten Hegemonieanspruch ohne Skrupel und diplomatische Rücksichtnahmen durchsetzen. Daß die Durchsetzung dieser Hegemonie insbesondere missionarischen Motiven geschuldet ist, daran läßt Peters keinen Zweifel. In seinem Buch „Fighting for the Future: Will America Triumph?“ kommt er zu dem Schluß, daß die USA die Erde „zum Wohle der Menschheit“ beherrschen sollte. Das ist die zentrale Botschaft des Demokratisierungskrieges, den die USA derzeit in Afghanistan führen und demnächst wohl auch anderswo zu führen gedenken.

Tony Blair, Premierminister des „US-Vasallen“ Großbritannien (so Rudolf Augstein) hat die kommenden Demokratisierungskriege in einer Rede im April 1999 ideologisch vorbereitet. Blair brachte damals den Nato-Krieg gegen Serbien in Zusammenhang mit den tiefgreifenden wirtschaftlichen Veränderungen, die in den letzten 20 Jahren stattgefunden hätten. Die Globalisierung ändere „die Welt von Grund auf“, sagte Blair. Er verband die Frage der gegenseitigen finanziellen Abhängigkeit ausdrücklich mit dem Kurs der USA. Die Kehrseite der Forderung nach der Errichtung einer neuen globalisierten Wirtschaftsordnung sei, daß die „Prinzipien der internationalen Gemeinschaft“ auch auf die „internationale Sicherheit angewandt werden müssen.“ Die Nato unter Führung der USA sei aufgerufen, Ordnung in der Welt zu schaffen. Diese Neuauflage des „Pax Americana“ bedeute, daß die „Nichteinmischung“, die lange „als ein wichtiges Prinzip der internationalen Ordnung galt (…), eingeschränkt werden muß“.

Blair hat in seiner Rede angedeutet, daß die Nato aus Sicht der USA bei der Durchsetzung des „Pax Americana“ ein verläßlicheres Instrument als die UNO ist. Dieser Paradigmenwechsel erklärt die immer blasser werdende Rolle der UNO, deren Gewicht von den USA bewußt mehr und mehr erodiert wird.


 
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