© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/01 14. Dezember 2001

 
„Wir betreiben Häppchen-Bildung“
Josef Kraus, Präsident des Lehrerverbandes, über Fehler im deutschen Schulsystem und das PISA-Desaster
Alexander Barti

Herr Kraus, seit Sie 1987 Ihr Verbandsamt bekleiden, warnen Sie vor einer „Abbruchpolitik“ im Bildungswesen. Jetzt hat die PISA-Studie („Programme for International Student Assessment“) gravierende Mängel der deutschen Schulbildung zutage gefördert. Werden die Probleme endlich angepackt oder verpufft die Schulpolitik wieder in sinnlosem Aktivismus?

Kraus: Es wird sich nichts ändern, solange man sich nur punktuelle Maßnahmen überlegt. Eine hyperaktive Innovationsrhetorik hilft nichts. Wir müssen die Studie als ein Zeugnis für unsere ganze Bildungsnation sehen. Und wir müssen uns gesamtgesellschaftlich überlegen, ob das Prinzip „Anstrengung“ nicht einen höheren Stellenwert bekommen muß. Konkret: Es gibt kein Land in der Welt, wo die Erwachsenen so wenig arbeiten wie in Deutschland. Wir arbeiten etwa 1.600 Stunden, die Japaner über 2.000 und die Amerikaner rund 1.800 Stunden. Wir können keine fleißigen jungen Leute haben, wenn die Erwachsenen selbst in Sachen Arbeit „Schlußlichter“ sind. Alle Schwarzen Peter müssen in der Tasche bleiben. Jeder, der mit Bildung zu tun hat, muß sich fragen, welchen Beitrag er zu dieser Misere geleistet hat. Das gilt für die Medien, die Erziehungswissenschaftler, für Schulpolitiker, Lehrer, Eltern, Schüler - nur wenn alle gemeinsam ein Maßnahmenpaket schnüren - und dazu muß auch gehören, daß sich Mentalitäten ändern - werden wir aus dem Bildungssumpf herauskommen. Im übrigen wird man die Ergebnisse neuer Bildungsanstrengungen nicht binnen Jahresfrist sehen können, wie wir das bei Investitionen von der Wirtschaft gewohnt sind, sondern ein Erfolg zeigt sich erst nach einer Schülergeneration. Man muß also langfristig planen und handeln.

Besonders Konservative behaupten, Deutschland komme in der PISA-Studie wegen der Ausländerkinder so schlecht weg. Frankreich, das ebenfalls viele Zuwanderer hat, steht aber bedeutend besser da. Wie kann das sein?

Kraus: Man sollte das Ergebnis jetzt nicht schönrechnen, indem man auf einen hohen Migrantenanteil verweist. Richtig ist, daß wir den höchsten Anteil an Migranten-Schülern aller OECD-Länder haben, aber selbst wenn man diesen Faktor herausrechnet, wären die deutschen Schüler¡“ gerade mal Mittelmaß. In Finnland gibt es einen Ausländeranteil von einem Prozent, und das sind Schweden, in Japan hat man praktisch keine Ausländer; diese Situation ist natürlich mit verantwortlich für das gute Abschneiden dieser Länder. Andere Länder mit hohem Migrantenanteil, wie Kanada, Australien, Frankreich, schneiden deshalb anders ab, weil man dort offensichtlich Wert drauf legt, daß Migranten-Kinder selbstverständlich in der Landessprache geschult werden. Wir haben in der Schulpolitik zum Teil den Fehler gemacht, daß man die Migranten-Kinder in ihrer Herkunftssprache unterrichtet hat. So geschehen in dem ehemals SPD regierten Hessen. Integration und Berufsaussichten sind dadurch unnötig erschwert worden. Schulen mit hohem Ausländeranteil - das sind zudem vor allem die Hauptschulen - müssen ihren Schülern ganz intensiv die deutsche Sprache vermitteln. Und sie brauchen dazu viel mehr zusätzliche Lehrerstunden.

Die Studie zeigt auch, daß die Leistung in Deutschland sehr weit gestreut ist; weiter als in allen anderen Ländern. Es gibt viele schlechte, aber auch viele gute Schüler. Vor allem linke Kritiker behaupten, das selektive Schulsystem sei schuld daran. Wie erklären Sie sich die breite Streuung?

Kraus: Den ideologisch motivierten Vorwurf eines „selektiven Schulsystems“ kann ich nicht stehen lassen. Wenn wir politisch und finanziell den Hauptschulen den gleichen Stellenwert gegeben hätten wie den Gesamtschulen, dann hätten die Hauptschulen viel besser abgeschnitten und das Gesamtergebnis wäre dadurch besser geworden. Außerdem wird völlig übersehen, daß man in Frankreich, Großbritannien, Japan und den USA ein finanziell - und damit auch sozial - extrem selektives Schulsystem hat. Dort gibt es Schulen, die pro Jahr 20.000 bis 30.000 Mark kosten! Dem deutschen Schulsystem Selektivität vorzuwerfen ist also ziemlich unehrlich.

Zur Lösung der Misere hört man nun verschiedene Vorschläge. Die Linken wollen uns wieder die Gesamtschule „andrehen“, andere empfehlen Ganztagsschulen wie in Finnland. Außerdem müsse man die Schulen insgesamt ökonomisieren, mehr Computertechnik einführen etc. Wie bewerten Sie diese Vorschläge?

Kraus: Die Tatsache, daß die Deutschen beim Lesen sehr schwach abgeschnitten haben, ist eher ein Hinweis darauf, daß wir zu sehr auf den „Computer-Trip“ sind und „Häppchen-Bildung“ betreiben. Wir haben eine gezielte Leseförderung vernachlässigt, und das hat auch Auswirkungen auf den mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich. Wer nicht gut strukturierend und sinnentnehmend lesen kann, der tut sich auch mit mathematischen Fragestellungen schwer. Wir müßten jetzt ganz antizyklisch die Muttersprache Deutsch fördern, statt nach Computern zu schreien.

Dem würden sicherlich viele zustimmen. Aber gleichzeitig fordert man die Einführung des Englisch-Unterrichts ab der ersten Klasse. Ist das nicht ein Widerspruch?

Kraus: Solange der Englisch-Unterricht in der Grundschule zu Lasten des Deutsch-Unterrichtes geht, bin ich sehr skeptisch. Zur Zeit passiert genau das: Der Englisch Unterricht wird von den Deutsch-Stunden abgezogen. Erst wenn man seine Muttersprache solide beherrscht, sollte man eine Fremdsprache lernen. Außer man wächst ohnehin bilingual auf. Im übrigen ist mir der Englisch-Unterricht in den Grundschulen ein bißchen zu spielerisch. Den Kindern darf man nicht vermitteln, sie könnten eine Fremdsprache „spielend“, ohne Anstrengung, lernen. Kinder, die so erzogen werden, erleiden in den Gymnasien oft Schiffbruch. Davon abgesehen bin ich mir im klaren darüber, daß die Ergebnisse umso besser sind, je früher man mit dem Lernen beginnt. Im Alter zwischen sechs und zehn Jahren hat ein Kind ein unglaubliches Nachahmungsvermögen. Man müßte in der Grundschule also eine Differenzierung machen: Schüler, die in der Muttersprache fit sind, könnten mit der Fremdsprache beginnen, die schwächeren sollten dafür eine Förderung in der Muttersprache erhalten.

Praktisch läuft das Konzept auf eine Erhöhung der Stundenzahl hinaus. Also doch eine Ganztagsschule, obwohl die Erziehung laut Grundgesetz eine Aufgabe der Eltern ist?

Kraus: Hier steht man vor einer schwierigen Gratwanderung. Ich glaube, daß wir mit dem Halbtags-Schulsystem gut gefahren sind. Mit dem System konnten wir auch jahrzehntelang an der Spitze mithalten. Trotzdem brauchen wir eine Intensivierung des schulischen Unterrichts, und das hieße eventuell mehr Stunden. Aber man könnte sich auch überlegen, was man wirklich lernen muß: Deutsch, Fremdsprachen, Mathematik, Geschichte, eine Naturwissenschaft - man muß sich von der Fiktion verabschieden, alle Fächer seien gleich wichtig. Im übrigen muß man unterscheiden zwischen Ganztagsschule und Ganztagsbetreuung. Eine Ganztagsbetreuung wird - auf freiwilliger Basis - in sozial schwierigen Gegenden notwendig sein, um die sogenannten „Straßenwaisen“ von der Straße zu holen. Ansonsten bin ich sowohl gegenüber einer verpflichtenden Ganztagsbetreuung als auch einer Ganztagsschule skeptisch, weil ich nicht eine totale Verstaatlichung von Erziehung haben will. Ich lehne die „totale Schule“ ab und möchte, daß gerade die Vielfalt der Jugendarbeit, die wir in Deutschland haben, erhalten bleibt. Es muß für die Kinder auch ein Leben außerhalb der Schule geben; dort findet man bei uns Entwicklungsmöglichkeiten, die man in Ländern mit Ganztagsschulen vergeblich sucht.

Die deutsche Schulmisere beunruhigt sicherlich verantwortungsvolle Eltern. Wenn der Zweifel an der staatlichen Bildungsqualität steigt, dürfte man einen Trend hin zu Privatschulen beobachten?

Kraus: Es gibt nur in dem Sinne einen Trend zu Privatschulen, daß sie in den letzten 10 bis 15 Jahren praktisch keinen Schülerrückgang hatten, während das staatliche Schulsystem einen Rückgang der Schülerzahlen verzeichnet. Aber es ist keine Entwicklung absehbar, wie man sie in Frankreich, in England und den USA hat, wo es viele Privatschulen gibt. Und das ist auch gut so, weil das staatliche Schulsystem die Pflicht hat, die Schüler optimal auszubilden - unabhängig vom Geldbeutel der Eltern.

Ein besonders erschreckendes Ergebnis der PISA-Studie ist, daß 42 Prozent der deutschen Schüler nicht zum Vergnügen lesen. Damit sind wir, gefolgt von Österreich, die größten Lesemuffel. Woher kommt diese Leseunlust?

Kraus: Wir sind im flachen Infotainment, in der elektronischen „Häppchen-Versorgung“ mit elektronischen Textchen und Bildchen zumindest in Europa führend. Das hat Auswirkungen auf die Medienkonsumgewohnheiten. Aber an der Leseunlust sind auch die Schulen nicht unschuldig. Man hat sich der Bequemlichkeit der Schüler zu sehr gebeugt. Reclamhefte oder Taschenbücher werden nicht mehr durchgelesen, man versorgt die Schüler mit kopierten Textauszügen und läßt sie nicht mehr viel schreiben; statt dessen werden Lücken- und Ankreuztexte ausgefüllt. Der verstorbene Verleger Ernst Klett sprach in diesem Zusammenhang von einem „Leseverhinderungsverfahren“. Die Lust zu lesen wird so nicht geweckt. Hierzu gibt es eine interessante OECD-Studie von 1992 - sie fand übrigens wenig öffentliche Beachtung - die den engen Zusammenhang von der Lesefreude der Eltern und der Anzahl ihrer Bücher einerseits und der Lesebereitschaft der Kinder anderereseits bestätigt. Anders gesagt: Wenn die Eltern nur vor der Glotze sitzen und erdnußmampfend ins Kinderzimmer rufen „lies mal ´n gutes Buch!“, dann wird das bei ihren Kindern nicht fruchten.

In Amerika und Japan gibt es auch viel elektronischen Medienkonsum - und Deutschland ist einer der größten Büchermärkte. Wieso wird hier trotzdem kaum gelesen?

Kraus: Ich persönlich habe den Eindruck, daß in Deutschland viele Bücher gekauft werden, die dann ungelesen ins Regal wandern. Anspruchsvollere Literatur wird hingegen nur von einer bestimmten, eher kleinen Klientel gekauft.

Wenn die PISA-Studie, worauf Sie eingangs hinwiesen, gleichsam ein Attest ist für die ganze Nation, dann wäre sie auch mit der sogenannten „Leitkultur-Debatte“ zu verbinden: Weil zum Beispiel die Franzosen stolz sind auf ihre Nation, vermitteln sie ganz selbstverständlich und mit Nachdruck ihre Kultur. In Deutschland will man eher von seiner Kultur ablenken; kein Wunder also, daß man den deutschen Spracherwerb, nicht nur bei Ausländern, vernachlässigt. Ist die Verknüpfung von PISA und „Leitkultur“ zulässig?

Kraus: Der Begriff „Leitkultur“ ist mir in diesem Zusammenhang nicht eingefallen, aber mir fällt auf, daß es Bereiche gibt, in denen wir gut sein wollen. Zum Beispiel beim Fußball und in der Wirtschaft. Was die Fußball-Nationalmannschaft betrifft, sind wir jetzt mit Ach und Krach unter die letzten 24 Mannschaften gekommen, und im Wirtschaftswachstum bilden wir in Europa das Schlußlicht. Und jetzt haben wir auch noch für den Bildungsbereich attestiert bekommen, daß wir nicht so ganz toll sind. Wir sollten uns also gesamtgesellschaftlich auf die Hinterbeine stellen und ein bißchen mehr Ehrgeiz entwickeln.

Um nochmal auf die PISA-Studie einzugehen: Haben Sie bezüglich der Methodik irgendwelche Schwächen oder Fehler entdeckt?

Kraus: Nun, die 500seitige Buchfassung wird erst noch veröffentlicht, ich kann also nur auf die 50seitige Zusammenfassung eingehen, und da fällt mir auf, daß man manchmal Äpfel mit Birnen verglichen hat. Wenn man vergleicht, muß man das konsequent tun. Man sollte dann auch sagen, daß in Japan 65 Prozent der Schüler zusätzlich in eine Nachhilfeschule gehen und daß andere Länder Elitebildungssysteme haben. Außerdem gibt es auch immer Probleme mit den Stichproben. In der vorausgehende Studie TIMSS („Third International Mathematics and Science Study“) ist mir aufgefallen, daß zum Beispiel die 14-15jährigen Tschechen hervorragend abgeschnitten haben, die 18jährigen Tschechen hingegen miserabel - und das kann nicht sein, da muß es einen Fehler bei den Stichproben geben.

Sie haben 1998 und in zweiter Auflage 2000 ein vielbeachtetes Buch veröffentlicht: „Spaßpädagogik - Sackgassen deutscher Schulpolitik“. Ist die „Spaßpädagogik“ schuld am PISA-Desaster?

Kraus: Ich fühle mich in vielem bestätigt. Wir haben Bildung und Lernen teilweise auf die Stufe der Unterhaltung, der inhaltlichen Beliebigkeit und der „Gutpädagogik“ einer „educational correctness“ herabgesenkt. Das rächt sich jetzt.

 

Josef Kraus wurde am 4. August 1949 geboren. Von 1971 bis 1977 studierte er in Würzburg Germanistik und Sport. Sein zweites Staatsexamen absolvierte er in Ingolstadt. Ab 1978 ist Kraus auch Diplom-Psychologe. Von 1980 bis 1995 war er Gymnasiallehrer in Landshut, seit 1995 arbeitet er als Oberstudiendirektor in Vilsbiburg. 1987 wurde Kraus Präsident des Deutschen Lehrerverbandes mit rund 160.000 Mitgliedern. Er ist verheiratet und hat einen Sohn.

Kontakt: Burbacher Str. 8, 53 129 Bonn, Tel: 02 28 / 21 12 12, Internet: www.lehrerverband.de  

 

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