© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/01 14. Dezember 2001

 
BLICK NACH OSTEN
Rückkehr zu riskant
Carl Gustaf Ströhm

Estlands Premier Mart Laar -Chef einer Mitte-Rechts-Regierung, womit sein Land auch in dieser Beziehung aus dem üblichen (ost)europäischen Rahmen fällt - hat dieser Tage den Verlust der deutsch-baltischen Minderheit, die einst in Estland zu Hause war, als eine „gemeinsame Katastrophe“ bezeichnet. Doch könne man, so fügte er resignierend hinzu, dieses „Resultat des Zweiten Weltkrieges“ nicht rückgängig machen (siehe JF-Interview auf dieser Seite).

Damit hat Laar die Aufmerksamkeit auf eine zahlenmäßig kleine deutsche Volksgruppe gelenkt, die eine bürgerlich-städtische sowie auf dem Lande eine adlige Oberschicht stellte. Obwohl es ihr nicht an Selbstbewußtsein - und manchmal gewiß auch nicht an Arroganz gegenüber dem estnischen Bauernvolk fehlte - vollzog sich der Abschied zwischen den zwei Nationalitäten, die etwa 700 Jahre miteinander gelebt hatten, in zivilisierten und melancholischen Formen, und zwar zu einer Zeit, in der man nicht zimperlich war: im Oktober 1939. Die Nationalisten, die gerade erst das Baltikum im Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August an die Sowjets ausgeliefert hatten, ließen den Deutsch-Balten keine Zweifel: Entweder die „Heimkehr ins Reich“ oder der Untergang in Stalins Gulag-Imperium. Der damalige sowjetische Gesandte im „noch“ selbständigen Estland (bereits im Juni 1940 wurden die baltischen Staaten von Moskau annektiert) sagte einem Onkel des Verfassers dieser Zeilen im Herbst 1939: „Warum laufen Sie vor uns davon? Dort, wo Sie jetzt hingehen, sind wir in drei Jahren auch!“ Es dauerte fünf Jahre, aber 1945 stand die Rote Armee in Berlin.

Jahrzehntelang blieb besonders den deutschen „Estländern“, das verschwundene Estland wie ein verlorenes Paradies in Erinnerung - gewiß auch aus der Retrospektive idealisiert. Aber die Nostalgie hatte ihre Berechtigung. Ein alter Deutsch-Balte sagte schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg: Niemand, der nicht vor 1939 in Estland gelebt habe, wisse, wie schön das Leben sein könne. Der deutsch-baltische Schriftsteller Werner Bergengruen sprach vom „baltischen Mittelalter“, aus dem seine Landsleute unsanft in das eisige 20. Jahrhundert gestoßen wurden. Auch das „Reich“ erschien den meisten von ihnen als „seelische Tiefkühltruhe“.

Als Estland mit Lettland und Litauen 1991 aus dem Abgrund der Sowjetisierung wieder als freies Land auftauchte, haben die in Deutschland und der Welt verstreuten „estländischen“ Balten nicht nur die alte Heimat in Scharen besucht, sondern, wo sie konnten, auch karitative Hilfe geleistet. Tief bewegt betraten die Älteren die Stätten ihrer Kindheit - und viele Jüngere suchten nach den Spuren ihrer Vorväter. Mit den Esten fand man sofort eine gemeinsame Sprache - in dieser Hinsicht haben die Deutschen ganz andere Erfahrungen als etwa die Sudetendeutschen mit den Tschechen.

Allerdings erfüllte sich die Hoffnung mancher Esten, die (baltischen) Deutschen würden sich in größerer Zahl zur Rückkehr entschließen, nicht, denn das Deutsche Reich hatte die Vermögenswerte der „Umsiedler“ 1939 an den estnischen Staat verkauft. Bis heute haben die Balten dafür keine angemessene Entschädigung erhalten. Es sei schön und berührend, die alte Heimat zu besuchen - aber sich dort niederzulassen, erscheine doch zu riskant, sagte einer von ihnen. Im heutigen post-sowjetischen Estland ist unvermeidlich vieles „amerikanisiert“ und „skandinavisiert“. Die von den Deutschen geprägte Vergangenheit ist vergangen. Darin liegt die Tragik für Esten wie für Deutsche.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen