© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/01 14. Dezember 2001

 
Erinnerung, tätowiert
Kino: „Memento“ von Christopher Nolan
Ellen Kositza

Wer die Vergangenheit schreibt, bestimmt die Zukunft, und wo das Vorher in undurchdringlichem Grau liegt, wird das Jetzt verfügbar für den, der das Zurückliegende zu kennen vorgibt. Leonard ist ein Mann ohne Vergangenheit. Zwar gibt es da eine hellleuchtende Erinnerung an ein einmalig schönes Leben - es endete in einer schrecklichen Nacht, in der Leonards Frau in der eigenen Wohnung vergewaltigt und ermordet wurde. Leonard, der durch ihr Schreien aus dem Schlaf gerissen worden war, wurde vom Täter schwer verletzt und leidet seither an einer seltenen Form von Gedächtnisverlust: Sein Erinnerungsvermögen reicht seit der verheerenden Lebenszäsur stets nur wenige Minuten zurück. Er weiß meist nicht, wo er sich gerade befindet, woher er kommt, wohin er geht und vor allem - warum.

Seine Lebensfähigkeit verdankt er mit eiserner Disziplin durchgehaltenen, rigiden Ordnungsmechanismen. Per Karteikarten, Akten voller Notizen und beschrifteten Photographien hält er sein Dasein zusammen und den einzigen Zweck, für den er noch existiert: den Mörder seiner Frau zu finden. Find him and kill him, finde und töte ihn, ist der zentralste der linksläufig auf seinen Körper tätowierten Merksätze, die er liest, wenn er sich entkleidet, um seinem Leben wiederholten Antrieb zu geben. Und Leonard steht oft nackt vor dem Spiegel: „John G. raped and murdered my wife“ - Vergeltung als Sinnstiftung. Den Mörder finden: Die Polizei hatte sich offensichtlich mit einer zu einfachen Lösung des Mordfalles zufriedengegeben und womöglich nur einen zweitrangigen Mittäter verhaftet; irgendwo, ist Leonard sicher, muß „John G.“ als freier Mann leben. Vor allem zwei Menschen sind es, die dem jungen Witwer bei seiner fieberhaften Suche nach immer mehr einzutätowierenden Indizien behilflich sind: der verdeckte Ermittler Teddy und die Kellnerin Natalie, die selbst um den Verlust ihres Geliebten trauert. Die beiden und ihr erinnerndes Auf-die-Sprünge-helfen werden zu Fixpunkten im qualvollen Leben des desorientierten Rächers. Aber es gibt Menschen, die ein Interesse daran haben, daß Leonard der Zugang zu seiner wahren Vergangenheit verwehrt bleibt. Der Mann ohne Erinnerung wird manipulierbar für die Gegenwart, die stets nur flüchtig ist und sogleich zum vergessenen Vorher wird.

Zunächst verwirrend, letztlich genial und folgerichtig, die unkonventionelle Erzählstruktur, die Geschichte spult sich rückwärts ab und führt zurück in die sukzessiv entfliehende Vergangenheit des ehemaligen Versicherungsdetektivs Leonard, der selbst nicht weiß, warum er in jenem zweitklassigen Motel lebt, einen Jaguar fährt und Designer-Anzüge trägt. Schritt für Schritt gräbt der Film sich in die Vergangenheit, deckt das warum der vorangegangenen Szene auf. Der trotz seiner irritierenden, die Zeitsprünge markierenden Schnitte und dem Wechsel zwischen Schwarzweiß- und Bunteinstellungen schnörkellos inszenierte Niedrigpreis-Film, abgedreht in 25 Tagen, verarbeitet eine Kurzgeschichte Jonathan Nolans, dessen Bruder Christopher hier meisterhaft Regie führt.

Hochkarätige Hollywood-Größen - Guy Pearce („L.A. Confidential“), Carrie-Anne Moss („Matrix“) und Joe Pantoliano - glänzen in den Hauptrollen dieses packenden, verstörenden Thrillers über Zeiterfahrung, Erinnerung und Identität.


 
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