© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/01 14. Dezember 2001

 
Eine intellektuelle Weltreise
Der diesjährige Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul über die postkoloniale Welt
Josef Schüßlburner

Der Rezensent freut sich, mit seiner Vorhersage in dieser Zeitung falsch gelegen zu haben. Er hatte gemeint, daß Vidiahar Suraiprassad Naipaul nie den verdienten Literaturnobelpreis erhalten würde. Zu realistisch schildern dessen Romane und insbesondere Reisereportagen die Situation. Schwarzafrika ist, wie etwa „Mobutu and the Nihilism of Africa“ zeigt, in die Dunkelheit zurückgefallen, die der Schriftsteller Joseph Conrad, Naipauls Vorbild, vor über einem Jahrhundert geschildert hatte. Am Beispiel Lateinamerikas, etwa mit „The Return of Eva Peron“ ist der Horror dargestellt, den der Ideologieimport der 68er in der Dritten Welt hervorgerufen hat. Die Ehre des Literaturnobelpreises für Naipaul hat sicherlich den Untergang der Sowjetunion und die damit verbundenen Ideologiederivate „Third Worldism“ und „68“ zur Voraussetzung. Hilfreich war wohl die programmatische Feststellung, daß „unsere Weltzivilisation“ im Entstehen begriffen sei, was einige als Amerikanismus mißverstanden haben. Naipaul meint mit „Weltzivilisation“ jedoch die Artikulationsmöglichkeit, die den Individuen und kulturellen Partikularismen eröffnet würde.

Obwohl seit längerem deutsche Übersetzungen wesentlicher Werke Naipauls vorliegen, haben diese, anders als in der angelsächsischen Welt, nur geringe Auflagen erreicht. Hierzulande besteht kein besonderes Interesse an anderen Kulturen und ihrer jeweiligen Problematik, worüber der aus Exotismus gespeicherte „Multikulturalismus“ nicht hinwegtäuschen sollte. Würde man eine fremde Kultur wirklich verstehen, könnte sich die wahre Problematik dieses Gesellschaftsprojekts erst offenbaren: „Sie sprachen vom Verbrechen der rassischen Diskriminierung und der Bruderschaft des Menschen. Sie appellierten an die Ideale der ausländischen Zivilisation, denen sie zu Hause jeglichen Wert absprachen“ (so über pakistanische Emigranten). Einer eingestreuten Reflektion in der „Islamischen Reise“ nach der Revolution Khomeinis läßt sich entnehmen, daß auf Trinidad, dem Geburtsland Naipauls und Hauptort seiner Romane, der Multikulturalismus vor allem deshalb möglich ist, weil man selbst innerhalb der indischen Bevölkerungsgruppe zur Konfliktvermeidung davon abgesehen hat, sich etwa als Hindu mit dem Islam des Nachbarn zu beschäftigten.

Von Naipauls Reisebeschreibungen, die Reportagestil und Interviewtechnik mit geschichtlichen Reflektionen verbinden, die den inneren Antrieb der dargestellten Personen verständlich machen, kann wohl nur derjenige wirklich profitieren, der bereits über Kenntnisse und Einfühlungsvermögen verfügt. Da es Naipaul vor allem darauf ankommt, die Motivation der Gesprächspartner, die er allerdings gelegentlich sarkastisch kennzeichnet, zu begreifen, erlauben seine Werke durchaus unterschiedliche Schlußfolgerungen. Aufgrund der Lektüre des Buchs über Indien, der letzte Teil einer Trilogie über das Land seiner Vorfahren, ist für den Rezensenten vor allem die Erkenntnis faszinierend, die Naipaul als solche nicht mitteilt, wie die etablierte parlamentarische Demokratie Indien indischer macht als es zur Kolonialzeit gewesen ist. Gewissermaßen eine Widerlegung des oberflächlichen Fukuyama, der meint, die Welt würde bei universeller Einführung der Demokratie amerikanischer. Indien hat nach Naipaul das Beste aus sich gemacht: Die Leute nehmen ihr Schicksal in unterschiedlichster Weise in die Hand, jeder macht auf seine Art seinen „Aufruhr“. Hierbei zeigt sich sicherlich Naipauls Sympathie für das Land seiner Vorfahren. Die ersten beiden Bücher über Indien „An Area of Darknes“s (1964) und „India: A Wounded Civilization“ (1977) waren aber noch von tiefem Pessimismus oder vielmehr einem Leiden an diesem Subkontinent geprägt. In dem nunmehr schon vor über zehn Jahren geschriebenen Werk deutet sich dagegen bereits die künftige Wissenschaftsmacht Indien an, wobei Träger der Wissenschaftsentwicklung überwiegend die Brahmanenkaste der Hindu-Priester ist, die geschult durch Sanskritstudien eine neue Betätigung gefunden hat, der sie sich mit religiöser Inbrunst widmet. Obwohl selbst der Brahmanenkaste entstammend, eine Tatsache, die in Trinidad an Bedeutung verloren, sicherlich aber seine Entscheidung für eine intellektuelle Betätigung beeinflußt hat, schildert Naipaul doch mit großer Sympathie die Anhänger der führenden Tamilenpartei von Tamil Nadu, insbesondere deren intellektuellen Führer Periyar, die sich einem antibrahmanischen Programm verschrieben haben. Naipauls Beschreibungen deuten an, wie der Kampf gegen das Kastenwesen und den Nationalismus zusammenhängen, wie umgekehrt Indien als Vielvölkerdemokratie nur bei Überleben des Kastenwesens, das eine bemerkenswerte Verbindung mit Parlamentarismus und Parteiensystem eingegangen ist, fortbestehen kann.

Vielleicht sind Naipauls Schilderungen der besuchten islamischen Staaten doch etwas von den Vorbehalten eines Brahmanen gegenüber den Obsessionen der Anhänger des Islams geprägt, denen das Projekt Pakistan nicht verziehen wird. Mit seiner Selbstarabisierung, die auf die Ausradierung der überlieferten kulturellen Tradition gerichtet ist, hätte der Islam schlimmere Konsequenzen als der britische Kolonialismus. Letzterer erlaubte - wie Indien zeigt - Institutionen zu entwickeln, die im Rahmen der weltweit erworbenen Standards die kulturell spezifischen Anliegen der Individuen zu artikulieren erlauben. Der Islamismus baut sie - wie Pakistan zeigt - mit zunehmender Radikalisierung ab, so daß letztlich nur Despotismus und Militärregime übrig blieben. Der bedrückende Eindruck des schon 1984 in Deutschland erschienenen Werkes wird zu Recht vermittelt. Die zeitige Lektüre hätte bestimmte Überraschungen über Vorgänge der jüngsten Zeit von Pakistan bis Indonesien erübrigt. Bemerkenswerter als die Eindrücke aus dem Iran, dessen Revolution Anlaß der „islamischen Reise“ gewesen ist, sich aber teilweise nicht mehr als aktuell darstellen dürfte, sind die Schilderungen aus Malaysia und Indonesien, wozu ergänzend sein Buch „Beyond Belief. Islamic Excursions Among the Converted Peoples“ gelesen werden sollte. Im damaligen Indonesien des Militärregimes hat man von der hauptsächlich durch pakistanische Prediger verursachten „malaysischen Krankheit“ gesprochen, wenn man die Islamisierungsbestrebungen aus dem demokratisch regierten Malaysia meinte, die sich gegen die vorislamische Kultur der Malaien richtet, die „gereinigt“ werden müsse. Naipauls Darstellungen widerlegen Einschätzungen deutscher Islamexperten von einem „toleranten“ Islam in dieser Weltgegend. Dieser ist „tolerant“, weil er eben noch nicht genügend islamisch ist.

Naipaul sieht es nicht als Aufgabe eines Schriftstellers an, Lösungen etwa des Islamismusproblems aufzuzeigen, auch wenn sich diese gelegentlich als naheliegend aufdrängen: Da der Islamismus ein Universalismus ist, liegt die Überwindung seiner intellektuellen und politischen Fehlleistungen im Partikularismus, also letztlich im Nationalismus, der die jeweilige vorislamische Kultur akzeptiert und damit so etwas bewirken kann, was im christlichen Kulturkreis als Trennung von Staat und Religion beschrieben wird. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß sich diese Erkenntnis ausgerechnet im Iran durchsetzen könnte. Dies deutet sich auch bei Naipauls iranischem Bericht an, der das islamische Experiment als vorübergehende Verwirrung eines Volkes mit hoher mittelalterlichen Kultur begreifen läßt. Die Schilderungen von Naipaul ermöglichen eine intellektuelle Weltreise und das Begreifen von Mentalität und Motivationen, die unsere Multikulturalisten gerne ausblenden möchten.

V.S. Naipaul: Indien. Ein Land in Aufruhr. Kiepenheuer&Witsch, Köln 1992, 672 Seiten, (nicht mehr lieferbar).

V.S. Naipaul: Eine islamische Reise. Unter den Gläubigen. 2. Auflage 2001, Deutscher Taschenbuch Verlag (DTV), 609 Seiten, 24,50 Mark


 
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