© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/01 01/02 21. Dezember / 28. Dezember 2001

 
Pankraz,
Marquis Posa und die Träume der Speere

Das ablaufende Jahr kann als das Jahr geplatzter Hoffnungen und preisgegebener Träume zu den Akten gelegt werden, Hoffnungen auf Frieden, Träume vom gelingenden Gleichmaß zwischen Wollen und Wirklichkeit. Berliner Jungpolitiker (bei den Grünen, aber auch in anderen Parteien) waren hektisch damit beschäftigt, die „Träume ihrer Jugend“, von denen Schiller so schön sagt, daß man vor ihnen Achtung tragen soll, an die wechselnden Regierungs-, Fraktions- und Bündniszwänge zu verraten. Aus Achtung wurde Verachtung. Inzwischen gleicht der Bundestag einer Theaterrequisite, in der ständig neue Kostüme ausgegeben werden.

Nun ist die Politik freilich ein Geschäft, bei dem die Träume der Jugend schon immer besonders schlecht wegkamen. Denn Träume, Tagträume, Jugendträume, Gerechtigkeitsträume, sind simpel symmetrisch gebaut, Politik aber ist die Asymmetrie schlechthin. Wer hier Ideale rein halten will, landet entweder als Hinterbänkler, der bei der nächsten Kandidatenaufstellung keine Chance mehr bekommt, oder er wird Diktator, der irgendwas gewaltsam „verwirklichen“ will und dabei Unheil anrichtet.

Das berühmte Marquis-Posa- Zitat aus Schillers „Don Carlos“, das der Tübinger Alt-Rhetoriker Walter Jens so gern in politischen Talkshows entfaltet, lautet: „Sagen Sie ihm, das er für die Träume seiner Jugend/Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird,/ Nicht öffnen soll dem tötenden Insekte/ Gerühmter besserer Vernunft das Herz,/Die zarte Götterblume...“ Bessere Vernunft also contra Herz, tötendes Insekt contra zarte Götterblume. Bei Licht betrachtet sind das keine realistischen Dichotomien. Das spontan urteilende jugendliche Herz ist zwar zart, aber keine Götterblume, die bessere Vernunft wird zwar auch von Opportunisten gerühmt, existiert aber wirklich.

Jeder Psychologe weiß, daß Jugendträumen von einer schöneren, gerechten und übersichtlichen Welt stets ein gerüttelt Maß Egoismus beigemischt ist. Der junge Träumer sieht sich selbst automatisch im Mittelpunkt der Schönheit und Gerechtigkeit, sei es als Berater, sei es als Akteur und Kanzler. Wenn er das Gewordene, das ihm entgegentritt, als unvollkommen empfindet, so in erster Linie deshalb, weil er selbst noch nicht daran beteiligt ist. Sein Impetus ist weniger eine Blume als ein Speer.

Selbstverständlich können auch Speere erfreuen. Der jugendliche Blick ist noch nicht von Routine getrübt, durchschaut die Faulheit von Kompromissen, die Banalität von Verabredungen. Und die Energie, die sich hinter dem Blick ballt, ist an sich hochwillkommen, wird im gesellschaftlichen Spiel gebraucht. Aber das ändert nichts daran, daß dem auf Veränderungen erpichten Jungen die volle Beweislast obliegt, d.h. er muß genau und überzeugend begründen, warum er etwas verändern will, es genügt nicht, sich auf die Stimme des Herzens zu berufen, die Vernunft muß die Bühne betreten.

Schiller, oder besser: Marquis Posa, nennt diese Vernunft ein „tötendes Insekt“ - eine großartige Metapher, über deren Reichweite sich der Marquis (der ja - im Gegensatz zu dem von ihm adressierten Don Carlos - bereits ein gewiefter, intrigengeübter Politiker ist) eigentlich im klaren sein müßte. Insekten stechen, und sie stechen nicht nur Götterblumen, sondern zum Beispiel auch Disteln, andere Insekten, sonstiges Getier. Fast könnte man glauben, Marquis Posa wollte Don Carlos im Zustand der Götterblume (oder Butterblume) halten, um ihn für seine eigenen, Posas, Zwecke zu instrumentalisieren. Immerhin ist Don Carlos Infant, König in spe; ihm als väterlich-brüderlicher Berater zur Seite zu stehen, verspricht höchste politische Würden.

Daß Posa auf der „richtigen“ Seite steht, gegen den Großinquisitor, für den Freiheitskampf der Vereinigten Niederlande, tut seiner Insektenhaftigkeit keinen Abbruch. Er ist zwar selber noch ziemlich jung, doch die Träume der Jugend sind bei ihm schon kräftig mit konkreter Politik eingefärbt, er steht gewissermaßen auf halbem Wege zwischen Butterblume und tötendem Insekt. Sollte er je an die Macht kommen, würde auch er Haftbefehle unterschreiben und Kehren um hundertachtzig Grad vornehmen, und niemand weiß, wie er dann reagieren würde, wenn ihm jemand „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ entgegenriefe.

Thomas Mann hat den „Don Carlos“ ein „stolzes und rührendes Gedicht“ genannt. Das mag so sein, aber vor allem ist er ein eminentes politisches Lehrstück, man erfährt in ihm viel mehr über reale Politik als etwa in den deklarierten Lehrstücken von Brecht. Mit den Träumen der Jugend bei Politikern, so erfährt man, steht es wie mit den Träumen der Jugend im Ganzen: Sie müssen sich vom Leben belehren lassen, um Achtung zu erwerben, und Belehrung heißt in diesem Fall, sich jeder Romantik zu entschlagen und sowohl den Charakter von Wunschträumen als auch den Charakter von konkreter Politik schonungslos zu analysieren.

Eine Schlußfrage bliebe dann allerdings: Kann es Politik ohne Romantik überhaupt geben, gehört nicht zu ihrer Grundvoraussetzung, daß sich die politischen Akteure dauernd Illusionen über ihr Geschäft machen, bei allem Zynismus und Opportunismus im einzelnen? Sie müssen ja glaubhaft wirken, um „anzukommen“, und glaubhaft wirken kann einer nur, wenn er auch glaubhaft ist und selber an sich glaubt.

Viel wäre für das neue Jahr schon gewonnen, wenn wir glaubhaftere Politiker bekämen, Gestalten, die sicher in sich selber ruhen und sich deshalb nicht nach jeder Decke strecken, die nicht immer nur an die Medien denken und an den Effekt, den sie dort machen. Und die - dies vor allem! - wirklich eigene Überzeugungen hegen, keine Lemuren, die vor äußeren Kräften im Staube liegen und die ihnen zuwachsenden inneren Kräfte mißachten und künstlich schwächen. Keine Träumer eben, keine Butterblumen, auch keine Insekten, sondern Zeitgenossen von Format.


 
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