© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/02 04. Januar 2002

 
Kolumne
Wort des Jahres
von Klaus Motschmann

Der Jahreswechsel ist traditionell noch immer Anlaß, sowohl in Gesellschaft und Politik als auch im privaten Bereich, über das Verhältnis von Verheißung und Erfüllung, Prognose und Wirklichkeit, Erwartung und Enttäuschung nachzudenken und Bilanz zu ziehen. In diesem Jahr besonders intensiv! Denn nach dem „11. September“ sollte bekanntlich alles anders werden und nichts mehr so sein wie früher. Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat dieses Datum zum „Wort des Jahres“ erklärt. Tatsächlich ist in ungezählten Erklärungen von Regierungen, Parlamenten, politischen Parteien und bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit in Presse, Funk und Fernsehen auf dieses Datum Bezug genommen und damit der Beginn einer neuen Zeitrechnung vermittelt worden.

Nach dem Zusammenbruch des sogenannten realexistierenden Sozialismus war es das Wort „Wende“, mit dem sich vielfältige Erwartungen vom Anbruch eines neuen Zeitalters verbunden haben. Aber von der Aufbruchsstimmung der frühen Neunziger ist am Ende des Jahrzehnts keine Rede mehr gewesen. Wenn auch nicht durchgängig Enttäuschung, so ist doch starke Ernüchterung die vorherrschende Grundstimmung in unserem Volke, die sich zunehmend zur Resignation, Apathie und Angst vor der Zukunft steigert. Alle wirtschaftlich und politisch relevanten Daten sprechen eine unmißverständliche Sprache und lassen kaum noch Raum für beschwichtigende Interpretationen und damit auch nicht für Hoffnungen: Die hohe Zahl der Arbeitslosen, die steigenden Kosten in der Gesundheits- und Rentenversicherung, die gleichbleibend hohe Staatsverschuldung, das viel zu schwache Wirtschaftswachstum und nach einer 30jährigen „Bildungsreform“ vom Kinderladen bis zur Universität ein Platz im unteren Bereich einer internationalen Vergleichsstudie. Dennoch: Neue Versprechungen, neue Reformen und damit neue Hoffnungen! Schon nach wenigen Monaten wird deutlich, daß doch noch alles so ist wie früher und von einem überzeugenden Neuanfang nichts zu spüren ist.

Es bleibt dahingestellt, ob der „11 September“ ein dies irae, ein Tag des Zornes über die Exzesse des realexistierenden Kapitalismus gewesen ist. Vieles spricht dafür! Nicht dahingestellt werden darf die Tatsache, daß man über diese Möglichkeit nicht einmal nachdenken darf, um keine Zweifel an den von menschlicher Eigenmacht diktierten Illusionen von neuen „Dritten Wegen“ aufkommen zu lassen. Diese Zweifel sind nach allen historischen Erfahrungen aber dringend geboten!

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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