© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/02 04. Januar 2002

 
Im weißen Matrosenanzug
Von Bassani bis Hermlin: Wer in Europa zum Großbürgertum gehörte und wer nicht
Doris Neujahr

Zwar sind wir ausschließlich wegen Giorgio Bassani nach Ferrara gekommen, doch erstmal verlieren wir den Ursprungszweck aus den Augen und uns an die mittelalterliche Altstadt: An die trutzige Estense-Burg (benannt nach dem Herzogsgeschlecht der D’Este), an das Herzogsschloß, das heute das Rathaus beherbergt, an den Dom mit seiner säulen- und loggiengeschmückten Seitenfassade ... Doch schon, als wir in der - laut Reiseführer - „ältesten Osteria der Welt“ am Dom die viergängige Spezialität des Hauses essen (Wurst und Schinken, danach zweierlei gebackenes Gemüse, eine Nudelspeise, schließlich Kuchen und dazu vier verschiedene Weine), hat sich der Kreis geschlossen. Wir befinden uns in der Via Adelardi, die früher Via Gorgadello hieß. Hier hatte Bassani die Arztpraxis von Dr. Fadigati, der Hauptfigur seiner Novelle „Die Brille mit dem Goldrand“ (1958), angegeben.

Bassani hat Ferrara zu einem Schauplatz der Weltliteratur gemacht. Als er 1916 als Sohn eines angesehenen Ferrareser Chefarztes geboren wurde, schien ihm eine Proustsche Existenz vorherbestimmt: Die Familie gehörte der städtischen Oberschicht an, der Sohn studierte Literatur- und Kunstwissenschaft und arbeitete früh auf eine literarische Karriere hin. Seine wenigen, aber formvollendeten Bücher spielen sämtlich in Ferrara. Er selber hat sie als einen einzigen „Romanzo di Ferrara“ verstanden.

Bassani hat darin sein Grundthema: die Blindheit und den Opportunismus des italienischen Bürgertums gegenüber dem Faschismus, immer neu variiert. Dr. Fadigati verfällt dem Studenten Eraldo Deliliers, dem Prototypen des blonden Herrenmenschen mit dem „schönen Gang - dem trägen Schreiten eines wilden Tieres“. Die Demütigungen durch den Gauner machen ihn nur noch unterwürfiger und verschaffen ihm „eine bittere Genugtuung, eine kindliche, unerklärliche, verblendete Freude“. Damit ist, in einer Atmosphäre aus Tücke und Bigotterie, sein Untergang besiegelt. Parallel zum Abstieg Fadigatis erlebt der Ich-Erzähler, ein junger Ferrareser Jude, seine Stigmatisierung durch die Rassengesetze.

Bassanis berühmtester Roman, „Die Gärten der Finzi-Contini“ (1962), spielt auf einem feudalen Anwesen am Stadtrand. Die Geschichte der unerfüllten Liebe zwischen Micòl, der schönen Tochter des Hauses, und einem jungen Studenten zieht bis heute die Leser in ihren Bann. Von Anfang an ist klar, daß der palastartige Familiensitz und die weitläufgen, mauerumfriedeten Gärten eine Mausefalle sind und die Finzi-Contini der Judenvernichtung zum Opfer fallen werden.

Für Bassani lag darin auch das moralische und politische Debakel der eigenen Väterwelt. Bassanis Vater war ein Faschist der ersten Stunde gewesen, die jüdische Oberschicht Ferraras gehörte fast vollzählig der Faschistischen Partei an, solange sie nur durfte. In der „Brille mit dem Goldrand“ finden sich Spuren des Vater-Sohn-Konflikts. Dem eben aus der Partei verstoßenen Familienoberhaupt wurde von einem faschistischen Würdenträger geraten, sich wegen der antisemitischen Wende nur keine Sorgen zu machen, sie sei eine taktische, mit Rücksicht auf Hitler erfolgte Angelegenheit, „ein Gegenbefehl des Duce würde genügen“, sie zu beenden. „Ich war verzweifelt, völlig verzweifelt (...), weil ich meinen Vater plötzlich so glücklich sah oder, besser, begierig, es wieder zu werden.“

Weshalb werden Bassanis Bücher immer wieder gelesen? Seine Schreibweise ist konventionell, und an unglücklichen Liebes- und Holocaust-Geschichten besteht auch kein Mangel. Die originäre Leistung von Bassanis Prosa besteht in der unvermittelten Konfrontation eines proustschen Erzählgestus’ mit dem Trauma des Massenmords. Die Bücher sind einerseits eine fortgesetzte Suche nach der verlorenen Zeit und lassen eine versunkene, großbürgerliche Welt auferstehen. In der reichen Gelehrtenfamilie Finzi-Contini überkreuzt sich das Besitz- mit dem Bildungsbürgertum. Da das Buch aber nicht in der „Belle Époque“, sondern in den dreißiger und vierziger Jahren spielt, öffnet kein Teegebäck mehr die Schleusen der Erinnerung, sondern der Besuch des jüdischen Friedhofs.

Bassanis Schilderungen wirken so überzeugend, weil sie auf eigene Anschauungen zurückgehen. Sein Elternhaus befindet sich in der Via Cisterna del Follo 1, es ist ein gelbgetünchter, zweistöckiger Bau, der zur Straße hin nicht einmal sonderlich groß wirkt; in der Mitte liegt ein eigener Innenhof. In dem autobiographischen Pennäler-Roman „Hinter der Tür“ (1964) erzählt ein neidischer Mitschüler, das Haus sei „so groß wie vier oder fünf moderne Häuser zusammen, und dazu gehöre ein prachtvoller Garten“. Bassani, der nach dem Krieg in Rom lebte, blieb noch jahrzehntelang Eigentümer. Heute ist der Familienname vom Klingelbrett verschwunden.

Auch die Adressen aus seinen Büchern lassen sich detailliert nachprüfen. Die Corso Ercole I. D’Este ist die eleganteste Straße der Stadt, mit Renaissance-Palazzi zu beiden Seiten und mit Steinpflaster ausgelegt. An seinem Ende, zur Stadtmauer hin, sollen sich das Haus und der sagenhafte Park der Finzi-Continis befinden. Hinter der Kreuzung zur Via Arionuova säumen links hohe Pappeln die Straße, und tatsächlich beginnt dort eine übermannshohe Mauer. Durch die wenigen Toreinfahrten erblickt man Parkanlagen, Gärten, Häuser, moderne Stadtvillen. Junge Burschen, fast noch Schüler, kommen in offenen Ferraris herausgefahren und brausen stadteinwärts. Wer hier wohnt, dem mangelt es auch sonst an nichts. Nur das Anwesen der Finzi-Contini hat es in Wirklichkeit nicht gegeben.

Es ist eine literarische Phantasie, in der Bassani die Essenz seiner erlebten Welt festgehalten hat. Jede Äußerlichkeit ist bei ihm ein unverzichtbarer Stimmungs- und Bedeutungsträger. So symbolisiert die Mauer, hinter der sich die Fini-Continis verbergen, ihre exklusive Stellung, aber auch die gesellschaftliche Trennung in der Stadt. Viele der besseren Häuser Ferraras schützen sich und ihre Gärten in der Tat durch Mauern. Sie steht weiterhin für die monadische Existenz der Menschen und für die illusorische Hoffnung, daß Konventionen, ererbter Reichtum und Privilegien einen Schutz gegen das Grauen des 20. Jahrhunderts gewähren.

Giorgio Bassani starb am 13. April 2000. Sein Grab auf dem Jüdischen Friedhof liegt abseits von den anderen Ruhestätten, auch von der seiner Eltern. Es ist überaus schlicht, am Kopfende steht ein unscheinbarer Stein. Es ist das genaue Gegenteil der sonstigen Grabungetüme.

Bassanis Bücher verlocken zum Vergleich mit den Jugenderinnerungen von Nicolaus Sombart oder mit der Publizistik von Wolf Jobst Siedler. Auch bei ihnen läuft der Leser stets Gefahr, sich an der verfeinerten Ästhetik des gehobenen, leider versunkenen Lebens, von dem sie erzählen, zu berauschen. Doch gerade Bassani hat stets insistiert, daß es sich oft um Äußerlichkeiten und Lebenslügen handelte und es hinter den Kulissen weit weniger schön, elegant und moralisch zuging. Nur hält der verzauberungssüchtige Leser sich um der schönen Ornamente willen damit gar nicht erst auf.

Allen Auguren zum Trotz, gibt es auch in Deutschland bis heute einen exklusiven Drei-Prozent-Anteil Großbürgertum, das, wie neuere Studien zeigen, alle Register zieht, um „unter sich“ zu bleiben. Die Außen- und Selbstwahrnehmung moderner Gesellschaften allerdings wird durch die breiten Aufsteigerschichten geprägt, die unter dem Schlagwort „Kleinbürgertum“ bekannt sind. In Deutschland kommt hinzu, daß durch Inflation, Vertreibung und Bombenkrieg überdurchschnittlich viele groß- und bildungsbürgerliche Statussymbole vernichtet worden sind. Es klafft ein ästhetisches Defizit, das nicht nur Raum für neue Sehnsüchte und Illusionen eröffnet, sondern auch die nüchterne Urteilskraft reduziert.

Anders hätte eine der größte Hochstapeleien der deutschen Nachkriegsliteratur, die großbürgerlichen Stilisierungen im Leben und Werk von Stephan Hermlin (Rudolf Leder), gar nicht gelingen können. Erst Karl Corinos biographischen Recherchen haben ihn 1996 als den Parvenü entlarvt, der er war. Liest man heute Hermlins „Abendlicht“ (1979), dann erkennt man sehr schnell, daß bereits ein wenig Stilkritik oder ein Vergleich mit Bassani (von dem Hermlin sich offenkundig literarisch und biographisch inspirieren ließ) ausgereicht hätten, um die raffinierte Falschmünzerei zu demaskieren. Denn in Wahrheit hatte Hermlin über die Welt, aus der er zu berichten vorgab, gar nichts zu sagen.

Von den Lippen seiner mondänen Mutter „drangen die magischen Namen des Modisten Gerson, des Juweliers Markus, des Friseurs Carsten“, bei einem Sanatoriumsaufenthalt erscheinen „junge elegante Männer“ mit „Halstüchern aus changierender Seide und Tennishosen ... zu kurzen Besuchen (...), jeden Morgen brachte das Mädchen ein Tablett mit ein paar Visitenkarten, meine Mutter las sie und lachte übermütig, und unsere Zimmer füllten sich mit Blumen, man brachte sie in ganzen Körben, man merkte kaum, wie sie welkten, dann traten neue an ihre Stelle. Einmal kam mein Vater, er küßte mich und fragte nach meinem Befinden, er scherzte mit meiner Mutter über die Blumen und über die jungen Männer, aber es hielt in nicht lange, und in Berlin erwartete ihn, wie er sagte, ein Herr Bleichröder zu einer Unterredung.“ Der kleine Stephan (Rudolf) indes „empfand eine süße, einschläfernde Langeweile, während ich in meinem weißen Matrosenanzug meinen Stuhl auf dem Kies wippen ließ“ und vom letzten „Urlaub mit der Erzieherin an der Ostsee“ träumte.

Das sind Kleinbürgertäume von der großen Welt, eine kolportagehafte Mischung aus „Buddenbrooks“ und Ufa-Filmen. Sie wurden willig geglaubt, weil die Leser sich verzaubern lassen wollten und die Kritiker - Kleinbürger auch sie - kaum stilsicherer waren und das Entzücken teilten. Der liberal-konservative Bassani hat das Bürgertum weit kritischer beschrieben als der Kommunist und Kleinbürger Hermlin.

Ferrara ist so propper und wohlhabend, daß wir direkt froh sind, vor einem kleinen Supermarkt endlich einen Bettler zu finden. Während wir noch überlegen, wie wir ihm das Wechselgeld zukommen lassen, so daß es am wenigsten peinlich wirkt, schreit er in unsere Richtung: „Scheiß Polacken!“ Ein italienischer Passant sieht unser Erschrecken. „Keine Angst. Keine Aufregung. Ein armer Teufel aus Deutschland ...“

 

Fototext: Von hohen Pappeln gesäumte Prachtstraße im italienischen Ferrara: „Durch die wenigen Toreinfahrten erblickt man Parkanlagen, Gärten Häuser, moderne Stadtvillen. Wer hinter diesen hohen Mauern wohnt, dem mangelt es auch sonst an nichts.“


 
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