© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/02 04. Januar 2002

 
Hinter jeder Kurve lauert ein Rätsel
Kino: Mit „Mulholland Drive“ ist David Lynch eine verstörende Demontage der Filmwelt Hollywoods gelungen
Claus-M. Wolfschlag

Ein neuer David Lynch, benannt nach einer Straße, serpentinenartig sich am Abgrund schlängelnd. Kein grader Weg. Hinter jeder Kurve ein Bild, ein Traum, ein Anlaß zu Verstörung. „Mulholland Drive“ war ursprünglich als umfangreiches Projekt für eine Fernsehserie von ABC angelegt. David Lynch drehte einen zweieinhalbstündigen Pilotfilm, ohne daß dieser je gesendet wurde. Nachdem sich ABC von dem Projekt entfernte, kaufte Studio Canal die Rechte an der Idee und gab Lynch ein ausreichendes Budget zum Erstellen eines großen Kinofilms - „Mulholland Drive“.

Das Werk in Überlänge gliedert sich in zwei sehr unterschiedliche Teile. Die erste Hälfte des Films zeigt eine konventionell angelegte Thriller-Story: Rita (Laura Elena Harring), eine attraktive Lebedame aus Hollywood, entgeht wegen eines Autounfalls knapp einem Mordanschlag. Benommen, verängstigt und verweint klettert sie aus der zerstörten Stretchlimousine und wackelt vom Mulholland Drive, jener berühmten, kurvenreichen Aussichtsstraße oberhalb von Beverly Hills, in das verlockende Lichtermeer von Los Angeles herunter.

Betty (Naomi Watts), eine naive, begeisterte Jung-Schauspielerin aus der Provinz, gelangt kurz darauf in die Stadt, mit dem Wunsch, den Traum von der eigenen Filmkarriere zu verwirklichen. Sie trifft auf Rita, die unter Gedächtnisverlust leidet, und beschließt, ihr bei der Wiederfindung ihrer Identität zu helfen. Aus der anfänglichen Frauen-Solidarität entwickelt sich Zuneigung und schließlich eine obsessive erotische Liebesgeschichte. Auf ihrer Suche nach Ritas Vergangenheit stoßen die beiden Frauen auf Ungereimtheiten, düstere Ahnungen und eine Leiche.

Zur selben Zeit versucht Erfolgsregisseur Adam Kesher (Justin Theroux) sein neuestes Filmprojekt zu gestalten. Während der Produktionsbesprechung treten zwei italienischstämmige Brüder auf den Plan und erheben eigene Forderungen hinsichtlich der Hauptrollenbesetzung. Als der Heißsporn Kesher erklärt, sich nicht in seinen Film hereinpfuschen zu lassen, bekommt er die Macht der Italiener zu spüren. Innerhalb von wenigen Stunden wird die Existenzgrundlage des bekannten Filmers vernichtet. Sämtliche Geldgeber und Konten verlautbaren, daß er bankrott sei. In der Nacht wird er zu einem Treffen mit einem ominös-anonymen „Cowboy“ (Monty Montgomery) gebeten, der ihn auffordert, den Forderungen der bizarren italienischen Finanziers nachzukommen, um weiterhin Filme drehen und ein angenehm-ruhiges Leben führen zu können. Kesher kommt gezwungenermaßen den Befehlen aus dem Zentrum der Macht nach. Während des Castings trifft er zufällig auf die im selben Studio vorsprechende Betty. Lang und unergründlich blicken sie sich an, als ob sie einander schon einmal begegnet wären ...

Hinter der glänzenden Fassade der Traumfabrik läßt Lynch, der auch das Drehbuch geschrieben hat, also die Linse auf die Abgründe in der Filmbranche Hollywoods richten.

Doch statt diese Geschichte linear zu einem verständlichen Ende weiterzuführen, beginnt er in der zweiten Hälfte des Films aber wieder die ihm recht eigene Demontage, die Reise in seine Welt verstörender Bilderrätsel anzutreten, die man schon aus „Twin Peaks“ und „Lost Highway“ kennt. Spätestens seit der Liebesnacht der Frauen, mit dem gemeinsamen Besuch eines mysteriösen Theaters, dessen Nachtvorstellung Zeit und Raum als Illusion enttarnt, beginnen Traum, Realität und Identitäten zu verschwimmen. Offen bleibt dabei, ob das weiter gezeigte Geschehen einen unruhigen Traum, eine Mischung aus düsterer Vorahnung und Bruchstücken des Erlebten, oder die aufgewühlte Rückprojektion aus dem Gedächtnis einer der beiden Frauen darstellt.

Lynch, mit „Wild at heart“ 1990 Gewinner in Cannes, läßt sein artifizielles Bildfeuerwerk aus düsteren Örtlichkeiten, Fetischismus und seltsamen Gestalten von der Leinwand prasseln. Die Menschen scheinen von Wahnvorstellungen und grausamen Energien geleitet. Dem äußeren Glanz der Filmwelt Hollywoods wird die Schattenseite aus zerplatzten Träumen, kellnernden Jungschauspielerinnen und mafiotischen Machtstrukturen entgegengesetzt. Die Puzzleteile merkwürdiger Figuren - Greise, Hünen und Waldschrate -, Symbole und Begebenheiten wollen sich aber nicht zu einem einzigen, verbundenen Bild zusammenfügen.

Mit „Mulholland Drive“ gelingt es Lynch dennoch, trotz dieser für den Zuschauer letztlich unbefriedigenden erzählerischen Auflösung der Bilderrätsel, trotz seines selbstgefälligen „L’Art pour l’Art“-Credos, allein über die meisterhafte Inszenierung von bedrückenden Stimmungen und traumhaft schönen Bildern einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.


 
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