© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/02 04. Januar 2002

 
Am neutralen Horizont des Daseins
Materialschlacht gegen die Religion: Georges Minois mißlungene Geschichte der Gottlosigkeit
Wolfgang Saur

Wer glaubt, die Exzesse des Stalinismus lägen hinter uns, sieht sich überraschend eines besseren belehrt. Der französische Historiker Georges Minois hat einen monströsen Wälzer über die Geschichte des Atheismus verfertigt, in dem er auf über 700 Seiten nichts Geringeres als eine Universalgeschichte des Unglaubens beabsichtigt.

Die atheistische Idee faßt er nämlich nicht als bloße Reaktionsbildung auf, sondern vielmehr als eine ebenso autonome wie universelle Position, die sich mit aller Religionsausübung gleich ursprünglich durch die gesamte Menschheitsentwicklung ziehe und eine ebenso globale Weltdeutung leiste wie diese. Daß freilich ausgedehnte Gelehrsamkeit und substantielle Erkenntnis nicht immer zusammenfallen, zeigt sich bald, und so wird die happige Lektüre rasch zum Ärgernis. Der Autor, uns vorgestellt als Experte für Religionsgeschichte, versteht vom Wesen des Religiösen rein gar nichts und scheitert bereits an der Entwicklung einiger dürftiger Grundbegriffe. In den ersten Kapiteln versucht er zunächst ein Schema zu entwickeln, das auf Elementarkategorien wie Mythos, Religion, Magie, Glaube, Unglaube usf. aufbaut, und dessen graphische Darstellung die Weltgeschichte der Religionen auf eine fixe Entwicklungsformel zu bringen sucht, was mit der Realität freilich wenig gemein hat. So soll es einen areligiösen mythischen „Urzustand“ gegeben haben, aus dem dann synchron religiöse wie atheistische Mentalität plötzlich hervorgetreten seien. Unter Mißachtung der einschlägigen Fachdiskussionen des 20. Jahrhunderts fällt der Autor den ältesten Ladenhütern wie der Naturdeutung anheim und zeigt so eingangs schon den willkürlichen Umgang mit Quellen und Forschungsliteratur. Minois beanspruchte „neutrale“ Perspektive als „Skeptiker“ erweist sich schnell als bloßes Feigenblatt. Vielmehr haben wir in ihm einen dogmatischen Atheisten alter Prägung vor uns. Weit entfernt, sich mit der Sache Gottes kritisch auseinanderzusetzen, ist er mit ihr schon auf der ersten Seite fertig. Der Atheismus vertritt für ihn die Sache der „Rationalität“; es handelt sich also um die heroische Wühlarbeit „humaner Vernünftigkeit“ gegen den „irrationalen Wahn“ in einem Kampf von Gut und Böse. Geschichtsteleologisch geht es um nichts anderes als das ultimative Verschwinden aller Religion, ihre „Entropie“ zwischen Mittelalter und Moderne. Konsequent teilt Minois die weltanschaulichen Ersatzvorstellungen seiner Referenzautoren, die parareligiöse Qualifizierung und Verabsolutierung von Rationalität, Wissenschaft, Natur und Gesellschaft. Restlos von diesen Konzepten überzeugt, ist er außerstande, sich mit deren ideologischem Charakter auseinander zu setzen und kann nur hilflos ihr faktisches Scheitern in der Moderne konstatieren. Das zwingt ihn anzuerkennen, daß trotz Säkularisierung im Westen, weltweit die Religionen nicht abgestorben sind und veranlaßt ihn zu einer verzweifelten Wendung, die seine eigene Geschichtsphilosophie konterkariert: Quer zur klassischen Idee einer Ersetzung von Religion durch Wissenschaft (Renan!) wird nun eine ewige Dualität von Glaube und Unglaube statuiert.

Wie nun setzt der streitbare Kämpfer für die gute Sache sein Unternehmen ins Werk? Methodisch pendelt er zwischen Philosophie und Sozialhistorie, das verbindende Moment liegt inhaltlich beim Materialismus-Problem. Auf diesen Punkt läuft seine Studie hinaus. Naturgemäß gilt es deshalb, die großen Theoriekonzepte von Demokrit bis Feuerbach vorzutragen und ihren systematischen Gehalt zu entwickeln. Andererseits verfolgt der Autor den Anspruch, das materialistische Prinzip auch methodisch umzusetzen in einer empirisch fundierten Sozial- und Alltagsgeschichte. Mikroskopierend wird das dann lokal- und regionalhistorisch ausgeführt, im Verein mit einem ungeheuren statistischen Material. Zwar schreibt der Verfasser selbst klipp und klar: „Wenn es ein Phänomen gibt, das sich zahlenmäßig nicht erfassen läßt, dann die religiösen Glaubensvorstellungen... Dennoch wimmelt es von Zahlen, die allesamt falsch sind.“ Von diesem Widerspruch abgesehen, scheitert seine Darstellung vor allem an folgenden Problemen: Als Philosophiehistoriker zeigt sich Minois seinem Material schlicht nicht gewachsen. Er hat sich durch Berge von Schriften hindurchgelesen, ist aber außerstande, diese in ihrem systematischen Gehalt zu rekonstruieren. So beschränkt sich das meiste auf literaturgeschichtliche Beiläufigkeiten. Völlig seinem Verständnis entziehen sich die Denker der deutschen Tradition: Meister Eckhart ist ihm ein „Nihilist“, Schelling ein „Materialist“, und Heidegger empfehle, sich in der „Gleichgültigkeit“ einzurichten, als ob Heideggers früher wie später philosophischer Diskurs nicht das glatte Gegenteil anstrebe. Offenbar wurde hier das Wort „Gelassenheit“ total mißverstanden. Das aber ist symptomatisch. Anstatt auf Inkommensurables zu verzichten, rafft Minois gierig Autoren, Werke und „Meinungen“, wo auch immer, zusammen, um seine Perspektive zu „untermauern“. Das geht bis zur totalen Verdrehung, wenn er etwa im Kontext konfessioneller Religionskonflikte die kontrovers-theologische Kategorie des Atheismusvorwurfs in ihrer polemischen Funktion verkennt und als authentische Beschreibung einer faktischen Realität mißdeutet. Diese Verzeichnungen sind auch seiner Sozialhistorie anzulasten, auf deren Gebiet er jedoch zweifellos auch Stärken hat. Doch zeigt er sich unfähig, mit Umsicht eine exakte Problembeschreibung zu geben, große Konstellationen und paradigmatische Bedeutungsstrukturen herauszuarbeiten oder ein Epochenprofil zu erstellen. So vermißt man durchgängig Klarheit, Transparenz und Proportion. Verschärft wird das durch die fast vollständige Ausblendung der Strukturentwicklungen von Theologie und Kirche in Europa, absurd für eine Geschichte des Atheismus, der so ihr Referenzobjekt abhanden kommt. Tendenziös wird dieses Verfahren schließlich bei der Unterschlagung manifester Verfolgung in der französischen und russischen Revolution. Letztendlich bleibt Minois gerade als Historiker schwach, außerstande aufzuzeigen, wie sich der Säkularisierungsprozeß strukturell umgesetzt hat, um so in der Moderne den Boden zu schaffen für das Massenphänomen eines „praktischen Atheismus“.

Ab der Renaissance stellt sich seine Studie hauptsächlich als eine Geschichte des Materialismus dar. Die Materie ist das einzige und notwendige Sein. Es ist „ganz klar, daß das materielle Sein in allen Dingen ist, daß alle Dinge aus dem materiellen Sein gemacht sind und daß sich schließlich alle Dinge darauf, das heißt auf die Materie selbst zurückfahren lassen.“ Unsere Sinne sind die einzigen Organe der Erkenntnis, das Denken ist ein „Sekret“, die Seele illusionär und der Mensch im ganzen eine „Maschine“, ein Mechanismus. „Wissen Sie, warum ich die Menschen noch immer achte? Weil ich ernsthaft glaube, daß sie Maschinen sind“, heißt es 1747 bei La Mettrie, und so lesen wir es bei einem zeitgenössischen Darwinisten noch Anno 1983. Alles ist materiell und bloße Modifikation dieses Urstoffs. Solche Sprechblasen bekommen wir auf Hunderten von Seiten in zahllosen Varianten vorgesetzt. Manches davon vermag literaturgeschichtlich zu fesseln, zumal der Autor sich als Spezialist der französischen Aufklärung erweist, deren ganze Diskussionen hier ausgebreitet werden. Nachdenklich stimmt den Leser freilich die Erkenntnis, wie sehr materialistische und atheistische Ideologien die Kultur unseres Nachbarlandes seit langem geprägt haben. Man gewinnt auch vielfach den Eindruck, daß die hysterische Polemik mancher Religionskritiker auch mit fragwürdigen Weichenstellungen des westlichen Geistes seit früher Zeit zu tun hat. Die abendländische „Wirklichkeitsneurose“ mit ihrem Tatsachenfetischismus, dem obsessiven Dringen auf „Realität“, der Gier nach „wahrer Objektivität“, der Vergötzung von „Geschichtlichkeit“, dem wissenschaftlichen Begründungswahn und dem hysterischen Zurückweisen aller „Spekulation“ gründet auch in einem problematischen christlichen Fideismus mit seinen Vorstellungen von Gott und Offenbarung.

Die heutige Lage eines anonymen Massenatheismus ist gut erkannt. Dieser zeichnet sich nicht durch bewußte Reflexion und eine systematische Doktrin aus, sondern durch praktische Gleichgültigkeit, ja das Verschwinden der Gottesfrage: „Für viele unserer Zeitgenossen ist das religiöse Problem nicht einmal mehr ein Problem. Der Atheismus ist also banal geworden, er verschwindet von selbst, so wie das religiöse Phänomen, das ihn hervorgebracht hatte, und wird zum neutralen Horizont des Daseins“ (Le Corre). Minois ist weit entfernt, das zu begrüßen. Ganz auf die klassische Konfrontation bezogen, irritiert ihn das Verschwinden der klaren Frontbildungen mit ihrem Lagerdenken. Anders als die postmodernen Intellektuellen registriert er entsetzt die kulturelle Segmentierung, die diffuse Religionsentwicklung der Gegenwart mit ihren vagen Umrissen, ihrer radikalen Differenzierung und Individualisierung und dem alexandrinischen Ineinander von säkularer Gesellschaft und neureligiösen Bewegungen, kurz der zeitgenössischen Ortlosigkeit und semantischen „Kakophonie“. Das reißt ihn zu der pessimistischen Vermutung hin, der menschliche Geist sei im Begriff, „vor den Kräften der Zersplitterung zu kapitulieren“, denn Gott habe bei seinem Verschwinden den Sinn der Welt überhaupt mitgenommen. So bleibt ein Trümmerfeld zurück, ohne daß der Atheismus in der Lage wäre, sein erhofftes Reich aufzurichten.

Für Minois jedoch hat dieser am Ende doch gesiegt, freilich indirekt. Angesichts der heutigen Aushöhlung der religiösen Sprache durch „Moral“, Psychologie und Politik, angesichts der Fragmentierung allen Sinns in der Postmoderne mit ihrem Egoismus, triumphiere im „Verlust der Mitte“ (Sedlmayr) der Gegner Gottes letztlich doch: „Und dies ist der wahre Sieg des Atheismus.“

 

Georges Minois: Geschichte des Atheismus. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Verlag Hermanns Böhlaus Nachfolger, Weimar 2000, 740 Seiten, geb., 45,91 Euro


 
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