© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/02 11. Januar 2002

 
Die Lust am Ekel
Carl Zimmers Betrachtungen über den Mikrokosmos der Parasiten
Angelika Willig

In Turgenjews Roman „Väter und Söhne“ erscheint ein Charakter, der Epoche machen sollte. Basarow ist der „Nihilist“, der den Menschen für eine besondere Froschart hält. „Igitt“, werden die Leser denken, wenn sie in den Frosch hineinschauen, denn darin wimmelt es von Parasiten. Tausende von kleinen Würmchen und Egeln, die in Venen, Nieren, Lunge, Blut und Darm des Wirtstieres hausen. In den Eingeweiden einer Ente können 14 parasitische Wurmarten leben; zusammen ergeben sie eine Population von etwa 22.000. Sogar der Wasserfloh besitzt einen Einzeller als Parasiten, der in seinem Darm lebt. „Parasitus Rex“ enthält nur ein paar ausgewählte Abbildungen. Viel mehr hätten wir kaum verkraftet. Dabei gibt es mehr Parasitenarten als „normale“ Tiere - selbst wenn man Bakterien und Viren, die auch schmarotzerhaft existieren, nicht mitrechnet. Der Mensch ist bloß bei großer Hygiene relativ parasitenfrei. In afrikanischen Ländern ist es bis heute nicht unwahrscheinlich, von dem Medinawurm befallen zu werden, der sich durch den Darm und das Fleisch bis unter die Haut bohrt und sich in ganzer Länge aus dem Unterschenkel ziehen läßt. Malaria und Schlafkrankheit werden ebenfalls von Parasiten übertragen. Auf der anderen Seite hat die Sauberkeit unsere Immunabwehr geschwächt und Allergien verbreitet. Ohne den Einfluß parasitischer Würmer neigt das Immunsystem dazu, auf harmlose Pollen, Katzenschuppen und schließlich auf alles und jedes allergisch zu reagieren. In den wunderbaren Tierfilmen, die ab und zu die Existenz des Fernsehens rechtfertigen, kommen Parasiten nicht vor. Dabei läßt sich stundenlang aus ihrem Leben erzählen: „Hakenwürmer können wie Blutegel auch die Haut durchdringen und sich in eine Kapillare zwängen. Durch die Venen schwimmen sie zum Herzen und zur Lunge. Wenn der Wirt hustet, werden die Larven in seinen Hals transportiert und kommen durch die Speiseröhre an ihr Ziel. Im Darm wächst der Hakenwurm und bohrt seine dolchähnlichen Zähne in die Darmwände, um das Fleisch aufzureißen, von dem sie leben.“ Der große Feind dieser Tiere ist das unwirtliche Immunsystem. Sie bekämpfen es in mannigfaltiger Weise und meist erfolgreich. Eine winzige Wespe hat die Fähigkeit, ihre Gene in die Zellen einer Raupe einzupflanzen, um deren Immunsystem auszuschalten. Doch so fair und offen ist der Angriff nicht immer. Mit Vorliehe manipulieren Rankenfüßler eine Krabbe so, daß dieser Wirt schließlich nur noch existiert, um den Parasiten und seine Larven zu hegen und zu pflegen. Der Einzeller Toxoplasma setzt in Rattenhirnen das natürliche Angstgefühl herab - damit die Ratten schnell von Katzen gefressen werden und im Katzendarm der Parasit seine Entwicklung vollenden kann. Mit Hilfe von Geruchsillusionen gelingt es Schmetterlingen, ihre Larven bestimmten Ameisen als eigene Brut unterzujubeln. Sie pflegen und füttern den großen Fremdling genauso wie Vogeleltern einen jungen Kuckuck aufziehen, weil sie von bestimmten Signalen getäuscht werden, die der Parasit, genau auf seinen Wirt abgestellt, im Verlauf der Evolution entwickelt hat. Sind Parasiten schädlich? Die Frage ist, wie immer in der Biologie, für wen? Für den Menschen sind sie nützlich, wenn sie Schädlinge auf seinen Feldern befallen, die dadurch dezimiert werden. Man nennt das „biologische Schädlingsbekämpfung“, im Unterschied zu chemischen Pflanzenschutzmitteln wie DDT. Statt Bomben zu werfen, schmuggelt man menschenfressende Tiere ein. Die kulturellen Einrichtungen bleiben erhalten.

Der Autor und mehrfach preisgekrönte Wissenschaftsjournalist Carl Zimmer versteht nicht die Reaktionen angesichts seiner Schützlinge. „Statt der gewissen Vernachlässigung oder vielleicht auch eines leichten Ekels legten sie eine regelrechte Verachtung für Parasiten an den Tag“, schreibt er über seine Kollegen. Leichter Ekel? Ekel ist doch wohl das vorherrschende Empfinden bei diesem Gegenstand und sicher der Grund für seine „Vernachlässigung“. Was ist Ekel? Ein häufig unterschätztes Gefühl. Jean Paul Sartre hat ihm einen ganzen Roman gewidmet. Wenn man will, kann man ihn als Fortsetzung Turgenjews lesen. Sein Held Roquot betrachtet aufmerksam seine Nase im Spiegel. Ihm wird klar, daß Descartes Unrecht hatte. Wir sind nicht, weil wir denken, sondern wir denken, obwohl wir sind. Die Russen vergleichen den Menschen gern mit einer Küchenschabe, die auf Nahrungssuche hin- und herkrabbelt und irgendwann zerdrückt wird. Ekel ist die Erkenntnis von Vergänglichkeit. Also wird ihn der Gläubige kaum kennen, der Nihilist hingegen findet seine perverse Lust daran. Büchern wie „Parasitus Rex“ mit dem Umschlagphoto eines elektronenmikroskopisch vergrößerten lila phosphorisierenden Insekts darf man eine weitere Verbreitung voraussagen. Da wird ein Bedürfnis angesprochen, das viele noch gar nicht für sich entdeckt hatten: Die Lust am Ekel. Eine Art ästhetischer Masochismus. Subtile Genüsse setzen eine gewisse Anstrengung voraus. Wobei Zimmer einen klaren und lebendigen Stil pflegt und plastische Bilder und Vergleiche an die Stelle trockener Wissenschaftssprache setzt.

Irritierend ist die Konfrontation mit dem naturwissenschaftlichen Kosmos für Literaten allemal. Am Schluß beschleicht uns ein furchtbarer Verdacht: Sind Menschen Frösche? Hat Basarow recht? Viel schlimmer: „Wir sind die Parasiten, und die Erde ist unser Wirt." Das Immunsystem dieses Wirtes - schlechtes Wetter, wilde Tiere, schlimme Krankheiten - halben wir weitgehend ausgehelbelt. Nun droht der Wirt unter seinem Befall zu ersticken. Doch Parasiten sind schlau. Sie töten den Wirt nicht, von dem sie leben. Man darf gespannt sein, was wir uns da einfallen lassen.

Carl Zimmer: Parasitus Rex. In der bizarren Welt der gefährlichsten Geschöpfe der Natur. Umschau/Braus, Frankfurt/Main 2001, 272 Seiten, 19,90 Euro


 
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