© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/02 11. Januar 2002

 
Leben im Alltag: Wie Lehrer nach der Pisa-Studie die Herausforderung angehen
Ein leerer Abend
Ellen Kositza

Monika Hermann hängt den Mantel an die Garderobe, drapiert ihren beigegemusterten Seidenschal locker über die Stangen der Hutablage, schlüpft aus den gefütterten Stiefeletten, holt einen Lumpen aus der Küche und wischt rasch die wenigen Matschspritzer vom empfindlichen Laminat. In die molligen Puschen mit den witzigen Plaste-Augen und dem aufgenähten Mund geschlüpft, Schuhe raus ins Treppenhaus, Musik an. Eine alte „Kuschelrock“ aus den Achtzigern. Phil Collins singt „In the air tonight“. Monika Hermann sinkt auf das Sofa.

Ausatmen. Ruhe. Nein, noch schnell Hände waschen. Kein aufmunterndes Bild im Spiegel - abends zeichnen sich die Falten doch schon stärker ab, da, am Mund, verkniffen sieht das aus. Und am Hals - wie Jahresringe. Der beige Seidenschal wird wieder umgelegt, die Halsentzündung, ihr alter Begleiter seit Jahren (schreit sie denn wirklich so viel?), scheint sich wieder anzukündigen. „Fortbildung Sprecherziehung anmelden“, trägt sie für nächsten Montag in den Hängekalender in der Küche ein, stellt Wasser für einen Kamillentee auf, setzt sich aufs Sofa, legt die Füße hoch. „Dreeeams are my realityyy“ haucht es aus den Boxen. Ach ja. Was für eine Woche. Die Halbjahreszeugnisse sind geschrieben, bis zu den nächsten Klassenarbeiten ist es noch ein guter Monat. Acht von dreißig Schülern werden das Schuljahr nicht packen, weitere zehn stehen hart auf der Kippe.

Dabei ist es längst kein Realschul-niveau mehr, das sie fordert. Weil die Bücher ihre Klasse vor unlösbare Aufgaben stellen, kopiert Monika seit Jahren ihren Stoff aus der Hauptschulbibliothek. Am schlimmsten sind Deutsch und Englisch. Gerade die Aufsätze sind ihr ein Greuel, „Gräuel“ buchstabiert sie in Gedanken und schmunzelt. 26 Fehler auf der verlangten dreiviertel Seite, kaum ein zusammenhängender Satz, geschweige denn eine nachvollziehbare Geschichte zum Reizwortthema „Baum“ - das ist passabler Durchschnitt, das ist eine glatte Drei, eigentlich eine noch gute Note. Zweier gab es diesmal keine - wann überhaupt zuletzt? Daß dieser Jahrgang eine epochale Wende, eine Wende zum Negativen markierte, hat sich Monika vor zehn, zwölf Jahren abgewöhnt zu denken. Vielleicht wird sie ja einfach nur älter. Seufzend - die Bandscheiben! - steht sie auf, gießt den Tee auf, holt eine Packung Puffreisscheiben aus dem Schrank und macht sich’s mit der heißen Tasse wieder gemütlich. Ja, der Deutschunterricht. Aber man muß auch Verständnis haben, die wenigsten in der Klasse sind ja Muttersprachler. Und dadurch haben sie’s auch sonst nicht leicht. Yassin, Burcu und Maria hat sie jetzt schon fast drei Wochen nicht mehr gesehen, unentschuldigt, da droht eigentlich ein Verwarnungsgeld.

Aber Monika - das war ihr heimlicher Schwur noch vor der Verbeamtung - will Milde walten lassen. Ihre Klasse, das ist ein bißchen wie ihre Familie, und seinen Kindern verzeiht man schließlich - auch wenn sie sich selbst mit ihrem Verhalten keinen Gefallen tun. Man kann aber schließlich nicht in die Köpfe hineinschauen, und in die Familien auch nicht. Yassins und Burcus Mutter, das weiß Monika, hat gerade genug Kummer mit dem älteren Sohn, der schon lange - und wer weiß, ob gerechtfertigt, man hört ja so viel - in U-Haft sitzt. Und Maria, an deren Gesicht sie sich kaum mehr erinnert, ist eine Sinti und Roma, deren Familie schon öfter temperamentvolle Auftritte im Rektorenzimmer hatte. Diese Menschen führen bei Gott kein einfaches Leben, hatte Rektor Rosenzweig gesagt, und: Gnade vor Recht, auch als Marias Brüder nächtens auf frischer Tat beim Einbruch in die Schulcafeteria ertappt wurden. Solche Kinder brauchen uns besonders, denkt Monika. Sie war richtig gerührt, als sie doch einmal eine Entschuldigung, einen abgerissenen Papierfetzen, inklusive Unterschrift von Kinderhand geschrieben - „mein tochter hatt dauernt Kopschmerze“ - in die Hand gedrückt bekam. Das Gespräch mit den Eltern zu suchen, ist in jedem Fall ein fruchtloses Unterfangen, das erfährt Monika seit Jahren. Als zuletzt schulfrei war, um eine halbtägige Elternsprechstunde anzubieten, saß nicht nur Monika allein in ihrem Klassenzimmer: Insgesamt fanden keine zehn Mütter den Weg zur Schule - und das bei 400 Schülern. Naja, die Arbeit frißt uns alle auf, denkt Monika.

Der Tee ist ausgetrunken, der Puffreis bläht leicht, und der CD-Spieler seufzt „Take my breath away“. Traurig machen diese Liebesschnulzen nicht gerade, ein bißchen wehmütig halt. Klar, mit Zwanzig hatte sie sich das anders vorgestellt, ein Leben mit Mann und Kind, eine Halbtagsstelle vielleicht. Zwei Beziehungen in den fünfzehn Jahren Lehrtätigkeit liegen hinter ihr, beide Männer hatten den gleichen Beruf wie sie gehabt. Und wie ein Koch eben auch privat gutes Essen bereiten kann, ein Architekt das Heim behaglich einzurichten weiß, so können auch Lehrer vielleicht nicht ganz abschalten und bestechen auch außerhalb der Unterrichtsräume durch eines: die Besserwisserei. Daran war es beide Male gescheitert. Sei es, wie es wolle, denkt sich Monika schon länger und ohne Bitterkeit, mit 39 ist man vielleicht selbst auch zu eigen, zu eingefahren in liebe Gewohnheiten, als daß man noch offen für einen neuen Partner wäre. Und Scherereien hat sie im Alltag genug. Ihr Engagement verwendet sie lieber an die Schüler, auch wenn nicht jeder Versuch glückt. Kürzlich hatte sie in Sozialkunde zum dankbaren Thema „Fremde Kulturen tolerieren und schätzen“ eine Sequenz türkische Sprache eingelegt.

Eine faszinierende Sprache, die sie selbst seit drei Semestern an der VHS lernt. Kleine Erfolge spornen an, dachte Monika mit augenzwinkerndem Blick auf die zahlreichen Türkenkinder - und hatte doch die Rechnung ohne die Griechen gemacht. Es gab eine Schlägerei - vor ihren Augen! Im Klassenraum! - und zusätzlich drei empörte Elternanrufe. Es ist kein Kinderspiel, dachte Monika, aber wir müssen und wir können uns diese neue Welt lebenswert einrichten. Monika Hermann glaubt an ihren Beruf, auch wenn er sie voll und ganz fordert und sie sich manchmal einen solidarischeren Geist im Lehrerzimmer wünscht.

Heute wie jeden Morgen der Blick auf die Magnettafel mit den Krankmeldungen: sieben Kollegen fehlen, davon Brönner, Fechner und Meier-Spieß verlängertes Wochenende wie so oft, Ellermann und Mitzke psycho, der Rest vermutlich erkältet, kein Wunder bei dem Wetter, verständlich, entschuldigt sich Monika Hermann gleich still für ihre leise aufkommende Wut. Ellermann und Mitzke werden wohl noch dieses Jahr den Vorruhestand einreichen, dann wäre das Dutzend ausgelaugter Frühpensionäre in den letzten drei Jahren voll. Ja, für diesen Beruf muß man geboren sein, denkt Monika. Die Stereoanlage ist verstummt, Monika Hermann begibt sich ins Bad, entdeckt bei der Zahnseideanwendung eine wohl schon fortgeschrittene Parodontose, sagt den Puschen Gute Nacht, denkt wie jeden Abend, daß das natürlich ein kindisches Ritual ist, fühlt sich darob ein wenig junggeblieben und bettet sich zur Nacht. 


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen