© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/02 18. Januar 2002

 
Das Grauen und die Sehnsucht
Sorge um Gen-Pools und vor Überbevölkerung: Die Uno hat 2002 zum „Jahr der Berge“ ausgerufen
Günter Zehm

Die Uno hat das Jahr 2002 zum „Jahr der Berge“ erklärt, gemeint ist: zum Jahr der Hochgebirge über zweitausend Meter. Das deutsche Fernsehen hat begeistert darauf reagiert und seinen ohnehin schon gewaltigen Jodler-, Zither- und Kuhglocken-Ausstoß seit Jahresbeginn noch einmal gewaltig erhöht. Speziell in den dritten Programmen wimmelt es nun von Gamsbart- und Dirndl-Look, es herrscht so etwas wie ewiger Almauftrieb, die Montanara-Chöre dröhnen und dröhnen und dröhnen.

Dabei hat die Uno gar nicht in erster Linie an die Alpen gedacht, eher an die Anden. Genau vor zweihundert Jahren erklomm Alexander von Humboldt im Lauf seiner spektakulären Südamerika-Erkundungstour zwischen 1799 und 1804 ohne Atemmaske und Spezialausrüstung den fast sechseinhalbtausend Meter hohen Chimborasso in Ekuador, und zur Erinnerung an diese Großtat also das „Bergjahr 2002“. Nicht der Alpinist, sondern der Naturforscher Humboldt wird geehrt, es wird nicht zu verstärktem Bergtourismus aufgerufen, sondern zur „Schonung“ der Berge.

Hochgebirge sind „Gen-Pools“, ihre Pflanzenarten und Tierrassen repräsentieren ein einmaliges Erbmaterial, das - oft seit Jahrhunderten unberührt - für Forschung, Wissenschaft und Bio-Industrie von unschätzbarem Wert ist und im Flachland vielfältige Begierden weckt. Diese Begierden, meint die Uno, müssen eingedämmt und kanalisiert werden, weil andernfalls die endgültige Zerstörung der Hochgebirgsbiotope droht. Darauf bezieht sich in erster Linie die erhoffte Schonung, erst danach kommt die Warnung vor Massentourismus, Bauwut und Übervölkerung der Täler.

„Ach, hätten wir doch noch die Urangst des Kulturmenschen vor dem Hochgebirge!“, stöhnte kürzlich ein bekannter Naturschützer in öffentlicher Rede, „dann brauchten wir auch kein Bergjahr 2002.“ In der Tat waren Furcht und Götterneid, ja, Abneigung und Grauen vor dem Hochgebirge uralte Topoi bei faktisch sämtlichen Kulturvölkern. Zu den ältesten Dokumenten der Menschheit gehören assyrische Königsinschriften, in denen dem Grauen beredter Ausdruck gegeben wird, wo Berge „besiegt“ werden wie Todfeinde und der „Sieger“ trotzdem heilfroh ist, wenn er dem angeblich Besiegten wieder den Rücken kehren kann. Etwas davon hat sich bis in die moderne Bergsteigersprache erhalten, wo ja ebenfalls von „Sieg“ geredet wird, wenn einmal ein Gipfel bestiegen ist.

Bei den Griechen und Römern galt es als geradezu gotteslästerlich, vom Hochgebirge gut zu sprechen. Als der Karthager Hannibal zum Kampf gegen Rom (218-201 v. Chr.) die Alpen überquerte, wurde diese Operation nicht etwa als logistische Meisterleistung bewundert, sondern man entsetzte sich darüber und qualifizierte sie als typische Untat eines Barbaren, der mit finsteren Dämonen und fremden Unheilsgöttern im Bunde stünde. Im Neuen Testament wird Jesus Christus vom Teufel auf einen Berg geführt, um dort von ihm „versucht“ zu werden; der weite Blick nach unten auf der Städte Herrlichkeiten hat keine ästhetische, sondern eine höllische Funktion.

Als erster freiwilliger und mythologisch unbefangener Bergbesteiger überhaupt wird der italienische Frühhumanist Petrarca angesehen, der 1336 n. Ch. den Mont Ventoux in der Provence (bescheidene 1917 Meter hoch) erkletterte. Aber was war das für eine merkwürdige Unternehmung! Petrarca erklomm den Ventoux nicht, um eine sportliche Leistung zu vollbringen oder sich an reizvollen Fernblicken ergötzen zu können, sondern um ein typisches Gelehrtenproblem seiner Zeit zu betrachten oder gar zu lösen.

Er hatte bei dem altrömischen Schriftsteller Livius gelesen, daß der Makedonenkönig Philipp V., unmittelbar bevor er von den Römern besiegt wurde, auf einen Berg geklettert sei und dort eine bestimmte Aussicht gehabt habe. Der junge Petrarca kraxelte nun auf den Ventoux, in dessen Nähe er wohnte, um den Fall durch vergleichende Messungen zu überprüfen.

Es gibt einen Brief von ihm an seinen Lehrer Francesco Dionigi, wo er das Unternehmen in allen Einzelheiten schildert. Er hat sich vorsorglich das Buch „Confessiones“ von Augustinus auf die Expedition mitgenommen, in dessen Lektüre er sich zunächst einmal vertieft, sobald er auf dem Gipfelplateau angekommen ist. Er schlägt den Band auf - und das erste, auf das sein Auge fällt, ist ein Donnerwort, das Augustinus über die spricht, die „die Gipfel der Berge anglotzen“, statt sich, wie es sich gehört, der Erforschung des eigenen Selbst zu widmen. Tief betroffen verzichtet Petrarca auf alle Messungen und klettert beschämt und reumütig wieder nach unten.

So also begann die wissenschaftliche Erforschung und touristische Erschließung des Hochgebirges. Die Furcht nahm ab, aber die Liebe kam nicht. Selbst als im 18. Jahrhundert im Zuge der Gefühlsphilosophie das Interesse und die malerischen Blicke für wilde, unberührte Landschaften zunahmen und Albrecht von Haller sein großes Lehrgedicht über die Alpen veröffentlichte, wollte man der Bergwelt keine pure Schönheit zuerkennen. Berge waren „erhaben“, nicht schön. Ihrem Anblick blieb stets der Schrecken beigemischt, man sah in ihnen unsichere Kantonisten, aus denen jederzeit die Katastrophe hervorbrechen konnte. Und dabei ist es im Grunde bis heute geblieben.

Was sich wesentlich geändert hat, ist die Einstellung gegenüber den autochthonen Bergbewohnern. Früher wurden auch sie gefürchtet, denn das Hochgebirge war auch für das Menschengeschlecht ein Gen-Pool, immer wieder brachen bis dato unbekannte Völker aus seinen Tälern hervor, aus dem Kaukasus, aus dem Altai, überfluteten die Ebenen und pflügten die Kulturen um. Es waren kantige, „unverbildete“ Stämme, die aufs Engste mit der Natur verbunden waren und aus dieser Verbundenheit elitäre Anmaßung, Freiheitsliebe und Herrschaftswillen zogen.

Heute sind die Bergstämme - abgesehen von einigen Ethnien in Afghanistan, im Kaukasus und in Neuguinea - überall domestiziert, und ihr Brauchtum ist zur sogenannten Folklore abgesunken. Ihre Musik, einst auf Sphärenharmonie und langhallendes Echo abgestimmt, löst nur noch Schunkelei und rhythmisches Mitklatschen aus, ihre Kantigkeit verwandelte sich in „Treuherzigkeit“, ihr Herrschaftswille gurgelt allenfalls noch in Alphörnern.

Und dennoch - der in Ebenen sozialisierte Normalbürger und Endverbraucher empfindet auch den Bergbewohnern gegenüber noch etwas von jener aus Neid und Schrecken gemischten Ambivalenz, die er der Bergwelt insgesamt entgegenbringt, heute wie ehedem. Ob Mensch, Kondor oder Berglöwe, ob Granit oder Kalkstein - sämtliche Bestandteile der Hochgebirgswelt wirken auch im 21. Jahrhundert noch exotisch-unvertraut wie am ersten Tag, und sie wecken ein diffuses Sehnsuchtsgefühl. Als liege hinter den schroffen Felsenwänden tatsächlich das sagenhafte Shangrila, das Land der ewigen Freiheit und Gesundheit, von dem die tibetischen Mönche erzählen.


 
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