© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/02 18. Januar 2002

 
In Kristall gemeißelte Melancholie
Sätze wie Eisblöcke: Ulrich Schacht hat einen neuen Erzählband vorgelegt
Günter Zehm

Die neuen Erzählungen von Ulrich Schacht sind wie Neurochips, die man ins Gehirn implantiert bekommt. Nicht jeder mag sich das gefallen lassen, aber interessant ist der Fall allemal. Es passiert fast nichts, es werden jedesmal „nur“ knappe Szenen imaginiert, aber diese Szenen gehen nicht mehr weg, man lebt fortan mit ihnen.

Meist sind es Szenen aus der Hochzeit der verflossenen DDR, die der Autor durch eigenes Schicksal bezeugen kann, Szenen aus dem Polit-Knast vorzugsweise: Verlegung aus einer Zelle in die andere, Gespräch mit der „Verteidigerin“ im Besuchszimmer der Stasi, Zerstörung einer kleinen Tabakspfeife, die sich ein Häftling unerlaubterweise gebastelt hatte, unter Stasiaufsicht. In der Titelerzählung „Verrat. Die Welt hat sich gedreht“ besucht ein Ex-Häftling nach der Wende seinen Stasi-Vernehmer von einst, der nun Hilfsarbeiter in einer Brotfabrik ist.

Es wird aber nicht räsoniert oder politisiert oder gar sentimentalisiert, sondern Schacht ist ganz Blick, ganz Fotoapparat, selbst die Wörter, die Gesprächsfetzen werden gewissermaßen abfotografiert, so daß sie zu einer Art Hieroglyphe erstarren. Der Band wirkt altägyptisch. Dinge und Personnagen gleichen sich eigentümlich an, gruppieren sich zum Stilleben, zur natur morte, die rätselhaft funkelt.

Außerdem spürt man den Ehrgeiz des Autors, die Verbissenheit, mit der er seine Bilder aus der Sprache herausgemeißelt hat. Da ist nicht die Spur von naiver Erzählfreude, alles ist scharf geplant und feinstgeschliffen, die Sätze stehen da wie Eisblöcke. Man fragt sich bei der Lektüre manchmal, ob hier überhaupt ein episches Temperament unterwegs war oder nicht vielmehr ein notorischer Lyriker, der weder aus seiner Haut heraus kann, noch heraus will und alles in Gedicht verwandelt, in „Sachgedicht“ freilich, eben in Stilleben, man kann auch sagen: in Kristall.

„Kristalline Melancholie“ hat der verstorbene Dramatiker Heiner Müller die Elaborate des jungen, 1976 aus dem Stasi-Knast freigekauften und in den Westen abgeschobenen Schacht genannt, und genau das ist auch der Eindruck, den die jetzt herausgebrachten „Erzählungen“ vermitteln. Schacht ist alles andere als ein Formalist, hinter seiner Meißel- und Schleifwut lauert nach wie vor bodenlose, fast sarmatische Melancholie.

Es gibt in dem Buch nichts zu lachen, nicht einmal etwas zu lächeln, selbst wenn die imaginierten Szenen lächerliche Situationen preisgeben. Alles, was sich Schacht erlaubt, ist gelegentlicher Sarkasmus und - ganz selten - ein großer Zorn, der jäh aufblitzt und gleich wieder verschwindet, um der Melancholie Platz zu machen, dem schwarzen Verdacht, daß die Befreiung aus der Stasi-Haft noch lange nicht das Ende der Gefangenschaft gewesen ist.

In den Szenen des Bandes, die „draußen“ spielen, fahren immer wieder Züge, es gibt Blicke aus Abteilfenstern auf Gleisdreiecke, Umstellwerke, Bahnsteige, und manchmal rattert ein dunkler Zug mit total verdreckten Fenstern und fremden (nur allzu bekannten) Aufschriften vorbei, überholt den eigenen Zug sogar. Man will entkommen und wird doch immer wieder eingeholt. Das Gebanntsein ins Bild, in den Kristall, macht den, der bannt, nicht wirklich frei. Aber es schärft die Erinnerung und nährt die Hoffnung, daß sich die Schatten der Vergangenheit eines Tages vielleicht doch zu Hilfskräften für die Brotfabrik auflösen.

Ulrich Schacht: Verrat. Die Welt hat sich gedreht. Erzählungen. Transit Buchverlag, Berlin 2001, 140 Seiten, 14,80 Euro


 
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