© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/02 18. Januar 2002

 
Lichter über dem Strom
Die Biographien wilhelminischer Eliten spiegeln eine aufbrechende Epoche wider
Wolfgang Saur

Wodurch hat man die Gnade Gottes verdient, diese großen Dinge erleben zu dürfen? Was lange Jahre das Ziel unseres Sehnens und Hoffens war, das ist nun in so herrlicher Weise erfüllt. Wie soll man in meinen Lebensjahren noch einen neuen Inhalt für das weitere Leben finden?“

Dies der Kommentar Heinrich von Sybels, eines führenden preußischen Historikers, zur deutschen Reichseinigung am 18. Januar 1871, die jahr­zehntelang die Sehnsucht des nationalliberalenBürgertums gewesen war. Seine Begeisterung war allgemein und begründete fortschrittsoptimistisch eine nachhaltige Akzeptanz des neuen Staates in breiten Bevölkerungsschichten. Um so überraschender dann der Kriegsausbruch 1914 und der Schock von 1918/19. Nur wenige sahen so klar wie Otto Hintze, der bereits 1915 schrieb, „daß die alte Staaten- und Kulturwelt mit diesem Kriege dahin ist und nie wiederkehren wird“.

Das wilhelminische Reich als unmittelbare Vorge­schichte des modernen Deutsch­land fesselt bis heute unser Interesse zu Recht. Die reichhaltige Literatur zum Thema ist nun um einen lesenswerten Sammelband bereichert, der den Gegenstand nicht systematisch angeht, sondern dezentral umkreist und gleichsam labyrinthisch ein beziehungsreiches Mosaik aus 39 biographischen Porträts zusammenfügt. Aus den Bereichen: Politik (14), Militär (5), Wirtschaft (3), Wissenschaft (13), Kunst (2), Literatur (3) und Publizistik (1) wurden charakteristische Repräsentanten der wilhelminischen Eliten ausgewählt, die diese Jahrzehnte wesentlich mitbestimmt haben. Minimiert wurden dabei persönliche Details, herausgearbeitet hingegen jene Aspekte, die auf markante Eckdaten oder strukturell bedeutsame Entwicklungen verweisen. So hat Wilhelm Mommsen idealtypisch seinen Beitrag über Bismarck energisch auf einige wenige Sachthemen hin fokussiert und damit ein kleines problemgeschichtliches Profil erstellt, das sich im Fort­gang der Lektüre mit weiteren Perspektiven vernetzt. In anderen Kapiteln verschmilzt das Biographische mit einer einzigen Entwicklungstendenz, so etwa dem Pazifismus (Quidde) oder der bürgerlichen Frauenbewegung (Helene Lange). Interesseleitend bleibt für alle Beiträger die Frage nach dem Verhältnis der Eliten zum Staat und deren Verantwortung am Kriege. So sind Fallstudien zu den Handlungsspielräumen der Individuen und Institutionen im Kaiserreich entstanden. Einem am Rande einlaufenden Klischee vom „antiintellektuellen Charakter“ der Zeit zum Trotz, überzeugt gerade dieser Band vom Gegenteil. Materie wie Darstellung fesseln in ihrer Vielschichtigkeit gleichermaßen.

Den politischen Rahmen setzen die drei Hohenzollernherrscher und ihre Reichskanzler/Ministerpräsidenten (Bismarck, Hohenlohe, Bülow, Bethmann, Baden). Wirkte Wilhelm I. mit seinen altpreußischen Tugenden integrativ als eine Symbolfigur für Stabilität und Tradition, so reflektierte sein Enkel in seiner genialischen Rastlosigkeit das „ruhelose Reich“ (Stürmer). Die Biographien der führenden Militärs (Moltke, Schlieffen, Tirpitz, Ludendorff, Hindenburg) entwerfen ein komplexes Bild zwischen altadliger Weltläufigkeit und kosmopolitischer Bildung, politikstrategischer Phantasie und problematischer Einflußnahme auf die Weltlage. Deutlich werden das institutionelle Gewicht des Generalstabs im Frieden und die politische Bedeutung der 1.-3. OHL (Oberste Heeresleitung) im Kriege. Die klassische Diplomatenkunst tritt auf in Gestalt des ehrwürdigen Hohenlohe-Schillingsfürst, und die Gegeneliten des sozialistischen Lagers sind präsent mit Parteigründer Bebel und den späteren Revolutionären Liebknecht und Luxemburg. Breit vertreten sind die Wissenschaften, zu Recht, brachten diese Jahrzehnte doch einen Schub für Forschung, Gründung ihrer Forschungseinrichtungen (beispielsweise die Physikalisch-technische Reichsanstalt) und Entwicklung der Universitäten hin zum Großbetrieb. Eindrucksvoll zeigt sich die hohe Wertschätzung wissenschaftlicher Arbeit in der Festansprache Wilhelm II. zu Helmholtz’ 70. Geburtstag: „Sie haben, Ihr ganzes Leben zum Wohle der Menschheit einsetzend, eine reiche Anzahl von herrlichen Entdeckungen vollbracht. (...) Ich und mein Volk sind stolz darauf, einen solchen bedeutenden Mann unser nennen zu können.“

Besonders gewürdigt werden in acht Beiträgen herausragende Historiker, weitere geniale „Mandarine“ (Sombart, Harnack, Weber) erwiesen mit ihrem Werk einmal mehr die Geschichtsfrömmigkeit des 19. Jahrhunderts. Über die Epoche hinaus weisen vor allem die Entwicklungen von Wirtschaft und Mediensystem. Betonte etwa Hugo Stinnes den ökonomischen Primat gegenüber der Politik, hatte diese sich zunehmend (Bülow) mit dem entstehenden „politischen Massenmarkt“ und der Macht des medialen Meinungsklimas auseinanderzusetzen, was sich eindrucksvoll offenbart am Beispiel Theodor Wolffs und des Berliner Tageblatts.

Über Auswahl läßt sich stets streiten; auch dieser Band gibt nur einen möglichen Ausschnitt aus einem ungeheuren Spektrum, und so bedauert man lediglich den wohl betriebswirtschaftlicher Kalkulation geschuldeten Verzicht auf Bildmaterial. Es würde das lesenswerte Kaleidoskop erfreulich visualisiert haben.

Fototext: Wilhelm II. und Adolf Harnack weihen 1912 das Kaiser-Wilhelm-Institut ein: Voraussetzungen der wissenschaftlichen Führungsmacht

Michael Fröhlich (Hrsg.): Das Kaiserreich - Portrait einer Epoche in Biographien. Primus Verlag, Darmstadt 2001, 463 Seiten, 49,90 Euro


 
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