© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   05/02 25. Januar 2002


Mehr Politik wagen
Dem Wahlvolk werden Alternativen vorgegaukelt, wo es längst keine mehr gibt
Alexander Griesbach

Edmund Stoibers Ablehnung von dringend benötigten Einwanderern, so letzte Woche in der FAZ zu lesen, sorgte für heftige Kritik. „Hier geht es um eine Zukunftsfrage für Deutschland und nicht um parteipolitisches Gezänk. Wer Kanzlerkandidat einer Partei ist, darf nicht so kleinteilig denken, wie es Edmund Stoiber tut“, sagte beispielsweise der innenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Max Stadler, am Donnerstag letzter Woche in Berlin. In der Tat hat Stoiber bislang den Entwurf der Bundesregierung für ein Zuwanderungsgesetz abgelehnt. Wirtschaft, Gewerkschaften und Kirchen sollten für Stoiber und die Union, so ist landauf, landab zu lesen und zu hören, Grund genug sein, das Thema nicht in den Wahlkampf zu ziehen.

Diese gespenstische Diskussion zeigt einmal mehr, wie es um die Demokratie in Deutschland bestellt ist. Der Souverän, das Volk, soll bei Fragen, die für das weitere Schicksal des deutschen Gemeinwesens von zentraler Bedeutung sind, gefälligst außen vor bleiben. Es könnte zu einer „Polarisierung“, ja zu einer „Rechtsverschiebung“ kommen. Wie schon bei der Einführung der Brüsseler Kunstwährung Euro soll der Wähler auch beim Thema Zuwanderung mundtot gemacht werden. Zusammen mit einer sich immer schneller vollziehenden Verlagerung nationaler Kompetenzen auf internationale, nicht demokratisch legitimierte Organisationen, kommt dies einer zunehmenden Entkernung der bundesdeutschen Demokratie gleich.

Anfang der siebziger Jahre sprach der Staatsrechtler Ernst Forsthoff mit Blick auf den bundesdeutschen Parlamentarismus davon, daß die „Grundlagen politischer Herrschaft“ dahin seien. Bei der Bundesrepublik handele es sich um keinen Staat „im hergebrachten Sinne des Begriffs“ mehr. Vielmehr handele es sich um ein „organisiertes Gemeinwesen“, daß nur noch kraft eines allgemeinen Konsenses als „Staat“ bezeichnet werden könne. Daß dieses „Gemeinwesen“, das heute nur noch „unsere Gesellschaft“ genannt wird, längst nicht mehr Herr seiner Entscheidungen ist, zeigt sich nirgendwo so signifikant wie in der Frage der Zuwanderung und der schleichenden Umwandlung des deutschen Staatsvolkes in eine „multikulturelle Gesellschaft“. Spielt es denn angesichts der internationalen Verträge, die Deutschland eine jährliche Zuwanderung in exorbitanter Höhe aufzwingen, überhaupt noch eine Rolle, ob die Unionsparteien einem Zuwanderungsgesetz zustimmen oder nicht?

Die Themen Zuwanderung und Euro zeigen deutlich, daß in Deutschland mehr und mehr nur noch öffentliche Scheindiskussionen geführt werden, die dem Wahlvolk Alternativen vorgaukeln, wo es längst keine mehr gibt. Sind nicht alle Themen von nationaler Tragweite, die in Deutschland scheinbar kontrovers im „öffentlichen Diskurs“ zerredet werden, inzwischen Scheindiskussionen, weil die Richtung im Grunde genommen längst vorgegeben ist? Kann noch ernsthaft von einer Demokratie gesprochen werden, wenn demnächst bis zu dreiviertel aller national relevanten Entscheidungen in Brüssel getroffen werden?

Es dürfte kaum ein Zufall sein, daß diese Entwicklung Hand in Hand mit einer signifikanten Erstarrung des Parteiwesens geht. Forsthoff stellte bereits Anfang der siebziger Jahre fest, daß der weithin rationalisierten, „sich mehr und mehr verwissenschaftlichenden Industriegesellschaft“ die Tendenz innewohne, lediglich „auf Meinungen und Überzeugungen beruhende politische Bestrebungen“ entweder durch Aneignung zu neutralisieren oder durch Abstoßung zu isolieren. Wenn diese Entwicklung zum „vollen Erfolg“ käme, so Forsthoff, würde ein gesellschaftlicher Zustand eintreten, der „mit dem vielberufenen Ende der Geschichte auch das Ende des Staates bedeuten würde“.

Fakt ist, daß sich die Anpassung des deutschen Gemeinwesens an eine der Globalisierung gemäßen Daseinsform rapide beschleunigt. Diese Anpassung macht bei den Parteien nicht halt, deren Programme nur noch graduelle Unterschiede aufweisen.

Die weitgehende Auflösung weltanschaulicher Positionen in einen wie auch immer gearteten ökonomisch inspirierten Pragmatismus, der inzwischen alle etablierten Parteien kennzeichnet, hat dazu geführt, daß der Wähler mehr und mehr seine eigenen Interessen in den Mittelpunkt von Wahlentscheidungen stellt. Um diese Wahlentscheidung in seinem Sinne zu beeinflussen, haben sich die etablierten Parteien in der Vergangenheit redlich bemüht, einen entscheidenden Teil der Stimmwerbung in die Vorabbefriedigung von Interessen durch die Gesetzgebung zu verlegen. So ist der Leistungsstaat entstanden, der einen Menschentypus hervorgebracht hat, der ohne Versorgungen und soziale Sicherungen aller Art überhaupt nicht mehr zu denken ist.

Zu Recht hat Forsthoff darauf hingewiesen, daß eine derartige Akzentverschiebung notwendigerweise auch mit einer Veränderung der politischen Mentalität einhergehen muß. Aus Sicht der Mehrheit der Bevölkerung ist der Staat nicht mehr Träger einer Weltanschauung, die Orientierung schafft, sondern zunächst einmal Garant für das „Funktionieren der im Staat vereinigten Leistungssysteme“. Forsthoff hat daraus die Schlußfolgerung gezogen, daß das „Allgemeinwohl“, das er das „Konkret-Allgemeine“ genannt hat, keine Instanz mehr habe. Der „Schutz der Interessen Aller“ reiche so weit, „wie die jeweiligen mehrheitlichen Konsense, die in den Gruppierungen der organisierten Interessen zustande kommen“.

Diese Ausführungen kommen einer weitgehenden Bestätigung der Einsicht von Carl Schmitt nahe, der meinte, daß ein „konsequenter Inidividualismus“, der sich heute, folgt man dem Soziologenchinesisch, in vielfältigen Lebensformen „ausdifferenziert“ hat, letztlich zur „Verneinung des Politischen“ führe. Dem Liberalismus hält Schmitt vor, den Feind, verstanden als politischen Gegensatz, von der Geschäftsseite her in einen „bloßen Konkurrenten“, von der Geistseite her in einen „bloßen Diskussionsgegner“ aufgelöst zu haben.

Weder von Stoiber und schon gar nicht von Schröder kann erwartet werden, daß sie der schleichenden Aushöhlung deutscher Staatlichkeit Einhalt gebieten. Sie sind Parteifunktionäre. Bei der Bundestagswahl am 22. September dieses Jahres wird deshalb ausschließlich darüber entschieden, wer in Zukunft mit dem Verweis auf die normative Kraft des Faktischen der Globalisierung (besser: Amerikanisierung) aller Lebensverhältnisse die weitere Überführung des „deutschen“ Gemeinwesens in supranationale Strukturen moderieren darf und wer nicht.


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