© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/02 25. Januar 2002

 
Religiöse Hirngespinste und Barbareien
Tierschutz: Das Karlsruher Schächt-Urteil widerspricht unseren europäischen Werten
Edgar Guhde

Für das Bundesverwaltungsgericht war 1995 in seinem Urteil zum Schächten noch die objektive Fest-stellung zwingender Vorschriften einer Religionsgemeinschaft über das Betäubungsverbot beim Schlachten maßgebend, um Ausnahmen zum Tierschutzgesetz zu rechtfertigen. Das am 15. Januar 2002 verkündete Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sieht es ganz anders: Nun reicht die „subjektive religiöse Überzeugung jedweder Gruppen innerhalb des Islam“ aus für die Erteilung von „Ausnahmegenehmigungen“ für das betäubungslose Schächten. Die „konkrete Glaubensgemeinschaft“ und nicht der Islam als solcher oder in seiner mehrheitlichen Ausrichtung ist nunmehr zu berücksichtigen - so abstrus und atavistisch deren Auslegungen auch sind. Postuliert wird das „Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft“, das unser Staat anzuerkennen habe.

Noch am 16. März 2000 hatte auch der Verwaltungsgerichtshof Kassel entschieden, die objektive Feststellung, ob das Schächten zu den zwingenden Vorschriften des Islam gehört, könne nicht dadurch ersetzt werden, daß ein regionaler Zusammenschluß von Muslimen ein religiöses Gutachten eines von ihm berufenen Rechtsgelehrten für sich verbindlich erklärt. Hinweggesetzt hat sich das BVerfG über Artikel 12 des Europäischen Übereinkommens über den Schutz von Schlachttieren vom 10. Mai 1979 und Artikel 5 der Richtlinie 93/119/EG des Rats der EU über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung vom 22. Dezember 1993, die eine Betäubung vor dem Blutentzug vorschreiben, weil dies den Tieren weniger Schmerzen und Leiden bereitet.

Auch der Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, daß das staatliche Verbot des Schächtens keinen Verstoß gegen die Religionsfreiheit bedeute, soll nun nicht mehr gelten. Die Ausnahmeregelung des Tierschutzgesetzes (§ 4a (2) 2) wird zur Norm. Denn angesichts der Masse der anstehenden Anträge wäre es abwegig, weiterhin von „Ausnahmegenehmigungen“ auszugehen. Hier wird offenbar, wie das Tierschutzgesetz, das eben nur „Ausnahmen“ zuläßt, unterlaufen und ins Gegenteil verkehrt wird.

Das Urteil des BVerfG führt dazu, so der Verfassungsrechtler Hans-Hugo Klein, daß die „Anwendbarkeit zwingenden Rechts in die individuelle Entscheidung des Einzelnen gelegt wird.“ Eine bloß nachvollziehbare, nicht zu bewertende Berufung auf den Glauben genüge, und schon sei dem Urteil zufolge der Staat verpflichtet, Ausnahmen zu machen. „Religiöse Hirngespinste und anachronistische Barbareien werden toleriert, weil man Minderheiten nicht zu nahe treten will“, schrieb in überraschender Offenheit die Berliner taz. Die Transformation und tendenzielle Selbstaufgabe der auf traditionellen europäischen Werten beruhenden Gesellschaft in multikulturelle Beliebigkeit gegensätzlicher Lebensformen kann nun nicht nur schleichend, sondern offen und legalisiert vorangehen. „Der Etappensieg der islamischen Organisationen wird wohl, so viel kündigt sich bereits an, auch der Anfang einer weitreichenden Institutionalisierung islamischen Lebens in Deutschland sein“, so die taz. Angesichts der Schächtpraktiken befremdet die Auffassung der grünen Verbraucherministerin Künast, das Urteil trage „zum Frieden in unserer multikulturellen Gesellschaft“ bei.

Nicht um die „deutsche Leitkultur“ geht es in diesem Kontext, sondern um Wahrung und Durchsetzung eines übernationalen Leitwerts, um Mitleid und Empathie mit den Schwächsten und Wehrlosesten: den Tieren, um den Leitwert Tierethik, die ihre Ursprünge bereits im alten Ägypten und Indien, auch in der Antike hat. Europäische Wurzeln hat die Tierschutzethik in der Neuzeit im deutschen Pietismus. Die ersten Tierschutzbestimmungen gab es Anfang des 19. Jahrhunderts in England. Das sich mühsam entwickelnde Bewußtsein von den Tieren als Mitgeschöpfen wurde durch das BVerfG-Urteil beeinträchtigt. Jener Teil unserer Gesellschaft erhält nun Auftrieb, für den der Tierschutz unwichtig ist.

„Die Bundestierärztekammer lehnt jedes Schlachten ohne Betäubung aus Tierschutzgründen ab“, das beschloß der 20. Deutsche Tierärztetags am 23. Januar 1995. Die großflächige Durchtrennung der stark innervierten Halsgegend bis zur Wirbelsäule werde als erheblicher Schmerz verspürt - schrieb Urs Schatzmann, Ordinarius für Veterinärästhesiologie am Departement für klinische Veterinärmedizin der Universität Bern, in der Neuen Züricher Zeitung. „Demgegenüber verspürt ein Tier bei korrekter Durchführung der Bolzenschuß- oder Elektrobetäubung keine Schmerzen, da die Empfindungslosigkeit sofort eintritt. (…) Das Argument, daß es sich beim Schächten um eine qualvolle Art des Tötens handelt, kann nach heutigen Kenntnissen nicht von der Hand gewiesen werden.“

Es sollte aber insgesamt darum gehen, jedwede Art religiöser Interpretation und Tradition zurückzudrängen, die Ausbeutung, Mißbrauch und Massentötung von Tieren fördert oder ihr mit Gleichgültigkeit begegnet. Und alle, die sich gegen das Schächten wenden, aber nicht gleichermaßen gegen die EU-weiten Massenabschlachtungen mit ihren tagtäglichen Fehlbetäubungen und sonstigen Mißhandlungen von Tieren auftreten, sind jedoch wenig legitimiert.

Die beste Lösung wäre, den Tierschutz im Grundgesetz ebenso zu verankern (siehe Seite 2 dieser JF-Ausgabe) wie den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Der Absatz des § 4a des Tierschutzgesetzes, der Ausnahmen von der Regelbetäubung aus „zwingenden religiösen Gründen“ ermöglicht, sollte gestrichen werden. Dann könnte auch das Schächt-Urteil hinfällig werden. Ein entsprechendes Aktionsbündnis „Tierschutz ins Grundgesetz“ des Deutschen Tierschutzbundes und des „Bundesverbandes der Tierversuchsgegner - Menschen für Tierrechte“ wurde gebildet, muß jedoch die Unionsfraktionen im Bundestag davon überzeugen, ihre bisherige Obstruktion aufzugeben. In elf Bundesländern hat der Tierschutz schon Verfassungsrang.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen