© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/02 25. Januar 2002

 
Kino: „Enigma“ ist ein packender Spionagefilm vor historischem Hintergrund
In der Welt der Geheimdienste
Ellen Kositza

Am 13. April 1943 gab Deutschland bekannt, ein Massengrab mit über 4.000 polnischen Offizieren bei Katyn entdeckt zu haben. Die Polen waren im September 1939 von der Roten Armee gefangengenommen und im Frühjahr 1940 von der russischen Geheimpolizei NKWD ermordet worden. Die Russen reagierten mit einer dreisten propagandistischen Gegenklage: Die Nationalsozialisten selbst hätten die Offiziere als Kriegsgefangene im Herbst 1941 niedergemetzelt. Zwar war die Beweislast gegen die Russen erdrückend, doch weil die westlichen Alliierten die Sowjets als Bündnispartner benötigten, stellten sie sich offiziell hinter Rußland. Auch später, im Kalten Krieg, wollte man das fragile Gleichgewicht der Mächteverteilung nicht durch weitere Untersuchungen und Vorwürfe an Moskau gefährden und hielt die russische Lüge mit aufrecht. Erst ein halbes Jahrhundert später gab der russische Präsident Boris Jelzin Dokumente frei, die belegten, daß Stalin die Eliminierung von über 20.000 Polen angeordnet hatte und jede folgende Regierung an der Vertuschung eines der perversesten Massaker des 20. Jahrhunderts mitgewirkt hatte.

Der Fall Katyn stellt den Kulminationspunkt eines fulminanten Spionagefilms dar, der in seinem breiten Rahmen um ein anderes Phänomen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs kreist: die legendäre, weil ihrerzeit als unentschlüsselbar geltende deutsche Chiffriermaschine „Enigma“.

Frühjar 1943: Nachdem die deutsche Kriegsmarine plötzlich den Code ihrer Funksprüche geändert hat, ist ein alliierter Versorgungskonvoi schutzlos den deutschen U-Booten im Nordatlantik ausgeliefert. Im viktorianischen Anwesen Bletchley Park nördlich von London arbeiten hochkarätige Mathematiker, Elektroingenieure, Sprachwissenschaftler und Militärs an einem Projekt des britischen Geheimdienstes. Der junge Mathematiker und Kryptoanalytiker Tom Jericho (brillant: Dougray Scott) hat dort eine gewaltige Maschinerie, genannt „The Bomb“ geschaffen, die die Enigma-Codes, benutzt von der noch übermächtigen deutschen Unterwasserflotte, dechiffriert. Heute würde man jemanden wie Tom Jericho einen „Hacker“ nennen.

Jericho hatte nach einer unglücklichen Liebesgeschichte mit seiner in einer anderen Abteilung tätigen Kollegin Claire einen Nervenzusammenbruch erlitten und war daher suspendiert worden - jetzt holt man ihn gegen manche Widerstände zurück, als Genie und einzige Rettung in dieser brisanten militärischen Lage. Jericho macht sich an die Arbeit, zunächst nur mit halber Kraft wegen der nicht verwundenen enttäuschten Leidenschaft zu Claire. Doch als die Herzensbrecherin verschwunden ist und zugleich sich der Verdacht erhärtet, ein Spion befinde sich in Bletchley Park, wird aus dem nervös Leidenden ein hochkonzentrierter Jäger. Zu Hilfe kommt ihm, erst widerstrebend, Claires Mitbewohnerin Hester (Kate Winslet), die in Bletchley Park subalterne Tätigkeiten ausführt, eine graumäusige Brillenträgerin, die fortan ihre unentdeckten Fähigkeiten ausspielen darf, bis sie selbst gemeinsam mit Jericho ins Fadenkreuz des Geheimdienstes gelangt. Währenddessen schaufeln deutsche Soldaten in der Ukraine ein unfaßbares Massengrab frei...

Die 26jährige Winslet, durch ihre Hauptrolle im gigantischen Melodram „Titanic“ bekannt geworden, ist eine grandiose Ausnahmeschauspielerin, bemerkenswert schon durch die Tatsache, daß sie statt der ihr offenstehenden Hollywood-Karriere sich weiterhin auf den britischen Film konzentriert. Hier glänzt sie neben Dougray Scott kongenial in der Rolle der zunächst unscheinbaren und unterschätzten Funkempfängerin in einem packenden Spionagefilm vor historischem Hintergrund.

Bletchley Park als Scharnier auf dem immens kriegswichtigen Sektor der Dechiffrierung hat es wirklich gegeben, bei Kriegsende arbeiteten 12.000 Menschen hier, von denen einige im Film kleine Veteranen-Auftritte haben. Das Wunderwerk Enigma, von der Größe einer gewöhnlichen Schreibmaschine und 150 Billionen Verschlüsselungsmöglichkeiten beinhaltend, war 1928 vom deutschen Heer gekauft worden und wurde schon damals als Politikum erkannt. Polnische Wissenschaftler befaßten sich vier Jahre lang mit der Decodierung, erst 1932 gelang ein erster Einbruch in das System, der jedoch zunichte gemacht wurde, als die Deutschen 1938 die Maschine um zwei austauschbare Rotoren erweiterten. 1941 entwickelte ein britischer Mathematiker, der sowohl im Besitz einer eroberten Enigma-Maschine als auch von deutschen Codebüchern war, eine Grundlage zur Dechiffrierung der Enigma.

Angeblich führte unter anderem die Tatsache, daß deutsche Soldaten in fast jedem Funkspruch die Worte „Vaterland“ und „Kaiserreich“ verwendeten, letztlich zur Entschlüsselung der Enigma durch den Feind.

Die knapp fünfhundertseitige literarische Vorlage des erstklassigen Films lieferte 1995 der britische Journalist Robert Harris, dessen Roman „Fatherland“ (1992) die Vision eines von Hitler gewonnenen Kriegs vor einigen Jahren zu einer mittelmäßigen Verfilmung führte. Harris, Jahrgang 1957, veröffentlichte auch thematisch nahe Sachbücher, darunter „Hitler verkaufen: Eine Geschichte der Hitler-Tagebücher“. Seine Romane im Trivial-Stil wurden weltweit millionenfach verkauft und dienen bisweilen als Abiturthemen in bundesdeutschen Englisch-Leistungskursen. Die Enigma-Verfilmung leistete nun der studierte Historiker Michael Apted, der zuletzt als Regisseur des James-Bond-Streifens „Die Welt ist nicht genug“ von sich reden machte.

„Enigma“ ist der erste Film von Mick Jaggers Produktionsfirma „Jagged Films“. Anekdotisch dabei: Rolling-Stones-Chef Jagger hatte bei einer Sotheby´s-Auktion eine der raren Vier-Rad-Enigma-Maschinen der deutschen Kriegsmarine ersteigert. Neben Nachbauten darf das Original hier nun die Hauptrolle spielen.


 
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