© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/02 01. Februar 2002

 
Ein Spiel mit hohem Risiko
Union: Kanzlerkandidat Stoiber läßt beim Thema Einwanderung die frühere Standfestigkeit vermissen / Große Koalition in Brandenburg als Achillesferse
Paul Rosen

Seit der Nominierung Edmund Stoibers zum Kanzlerkandidaten der Union sind sich die Wahlkampfmanager noch nicht im Klaren darüber, wie sie den Bayern präsentieren sollen: Eher als Mann des Ausgleichs, beziehungsweise als „Gerhard Schröder light“, oder als den knallhart auf Kurs bleibenden CSU-Chef? Besonders an der Zuwanderungsproblematik wird diese Frage deutlich. Und in diesem Punkt muß auch die Entscheidung über den grundsätzlichen Kurs getroffen werden. Doch Stoiber selbst setzt derzeit noch auf Abwarten. Der Bayer, der sich einst den Beinamen „Das blonde Fallbeil“ erwarb, erweist sich jetzt als der große Zögerer.

Dies hat gute Gründe: Von Stoiber, der auch bayerischer Ministerpräsident ist, erwarten große Teile der Unions-Wählerschaft, daß er das von Innenminister Otto Schily (SPD) vorgelegte Zuwanderungsgesetz über den Bundesrat stoppt und damit eines der zentralen Projekte der bereits schlingernden rot-grünen Koalition zu Fall bringt. Die Haltung von bis zu 70 Prozent der Bevölkerung ist eindeutig: Sie will angesichts von erwarteten 4,3 Millionen Arbeitslosen keine Politik, die die Zuwanderung von Arbeitskräften nach Deutschland erleichtert. Doch die Union ist nicht auf einem klaren Nein-Kurs: Von ursprünglich 80 Punkten, in denen Schilys Entwurf geändert werden sollte, ging sie inzwischen auf 16 Punkte herunter. Dennoch blieb das erste Sondierungsgespräch im Bundesinnenministerium ohne Ergebnis. Schily habe in keinem der 16 Punkte Entgegenkommen signalisiert, berichtete der Verhandlungsführer der Union, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Wolfgang Bosbach (CDU).

Der wesentliche Vorwurf der Union lautet: Das Ziel der Zuwanderungsbegrenzung hat Schily nur in die Überschrift seines Gesetzentwurfs gepackt. Im Text jedoch ist davon nicht weiter die Rede. In der Begründung des Entwurfs wird sogar davon ausgegangen, daß die Zahl der Zuwanderer durch die Neuregelung steigen könnte. Ein besonders wichtiges Ziel für die Union ist die weitere Senkung des Familiennachzugs. Danach sollen Angehörige von hier lebenden Ausländern nur dann nach Deutschland nachziehen und sich hier dauerhaft aufhalten dürfen, wenn sie höchstens zehn Jahre alt sind. Davon verspricht sich die Union eine bessere Integration der Einwanderer. Schily dagegen will das Nachzugsalter von derzeit 16 auf 14 Jahre reduzieren. Selbständige sollen nach Vorstellungen der Opposition nur einwandern dürfen, wenn sie mindestens eine Million Euro investieren und zehn Arbeitsplätze schaffen.

Stoiber, so hat es den Anschein, läßt die Dinge etwas treiben. Denn abzuwarten bleibt, ob Innenminister Otto Schily noch aus einer Position der Stärke heraus agieren kann. Die V-Mann-Affäre um Spitzel als Zeugen im NPD-Verbotsverfahren hat dem Aushängeschild einer sozialdemokratischen „Law-and-order-Politik“ schwer zugesetzt. Angeblich war Schily bereits bei Schröder, um seinen Rücktritt anzubieten. Als Minister auf Abruf, so spekuliert man im Stoiber-Lager, könnte Schily gezwungen sein, der Union entgegenzukommen, um durch den formalen Erfolg, ein Zuwanderungsgesetz ins Gesetzblatt gebracht zu haben, die Pannen beim NPD-Verbotsantrag vergessen zu machen.

Es gibt jedoch auch eine andere Sicht der Dinge: Schröder könnte versuchen, die Zuwanderungsfrage zum zentralen Thema im Frühstadium des Wahlkampfes zu machen und den widerstrebenden Stoiber damit in die rechte Ecke zu stellen. Parallel zur emotionsgeladenen Auseinandersetzung könnte Schröder versuchen, sich im Bundesrat eine Mehrheit zusammenzubasteln. In der Länderkammer haben weder das aus SPD, Grünen und PDS bestehende linke Lager, noch die Bürgerlichen von Union, FDP und Schill-Partei eine Mehrheit.

Alles hängt vom Verhalten der Großen Koalition in Brandenburg ab. Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) hat Schröder und Schily weitgehendes Entgegenkommen in der Zuwanderungsfrage signalisiert. Statt 80 oder 16 Änderungswünsche legte er für seine Landesregierung nur vier Punkte vor, in denen er von Schily Entgegenkommen erwartet. In der Unionsführung wird gerätselt, wie weit Stolpe sein Vorgehen mit seinem CDU-Juniorpartner, dem Innenminister Jörg Schönbohm abgestimmt hat. Schönbohm spielte bereits in der Vergangenheit eine nicht klar durchschaubare Rolle: Einerseits lehnte er Schilys Zuwanderungspläne strikt ab, andererseits verwies er aber auf die Bedeutung der Großen Koalition für Brandenburg. Er dürfe die Interessen des Landes nicht außer Betracht lassen, soll Schönbohm im CDU-Präsidium zu Protokoll gegeben haben.

In Berlin gilt es als wahrscheinlich, daß Stolpe nicht besonders viel Rücksicht auf seinen Koalitionspartner nehmen könnte. Der Ministerpräsident steht selber unter Druck. Von der Bundes-SPD könnte für den Fall, daß Stolpe der Koalitionstreue mit der CDU, die eine Enthaltung und damit ein Scheitern des Zuwanderungsgesetzes nach sich ziehen würde, Vorrang vor den rot-grünen Zielen einräumt, ein Signal kommen, den Ministerpräsidenten abzulösen. Danach würde auch in Potsdam nach dem Vorbild von Mecklenburg-Vorpommern und Berlin eine rot-dunkelrote Koalition etabliert werden. Die Union hätte doppeltes Nachsehen: In Potsdam hätte sie die Regierungsbeteiligung verloren und im Bundesrat auch noch das Zuwanderungsgesetz nicht aufhalten können.

Dann stünde Stoiber blamiert da, weil er es nicht geschafft hätte, die oft beschworene Geschlossenheit der Union herzustellen. Daher wartet der Kanzlerkandidat ab, statt sich bereits jetzt festzulegen und in der unberechenbaren Länderkammer sehenden Auges in eine Niederlage zu laufen. Der Zeitdruck ist jedenfalls fürs erste weg: Das Zuwanderungsgesetz, über das ursprünglich Anfang Februar im Bundesrat abgestimmt werden sollte, kommt jetzt frühestens im März in die Länderkammer.

Denn der lauernde Stoiber rechnet damit, daß noch viel passieren kann. Schily könnte sich noch tiefer in die V-Mann-Affäre verstricken und eventuell doch zurücktreten. Ein neuer Minister bräuchte Monate, um sich in der Zuwanderungsfrage wieder zu positionieren. Es kann aber auch durchaus sein, daß andere Themen die Zuwanderung überlagern: So wird die Koalition Mühe haben, von den schlechten Wirtschaftsdaten und der Schwäche der Euro-Währung abzulenken. Wenn der Benzinpreis wieder steigen sollte, kommt die Ökosteuer wieder auf die Tagesordnung. Und die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind ebenso problematisch wie militärische Beschaffungsvorhaben, etwa der neue Transporter „Airbus A 400 M“ (JF 2/02).

Für Stoiber ist das alles ein Spiel mit hohem Risiko: Räumt er in der Zuwanderungsfrage alle Positionen, muß er mit der Abwanderung konservativer Stammwähler rechnen. Die Entscheidung, wie er sich verhalten soll, muß er bald treffen - spätestens im März.


 
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