© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/02 01. Februar 2002

 
An den Rand gedrängt
Die Unterdrückung der Tibeter
Werner Olles

Für die meisten Europäer be deutet Tibet ein exotisches Paradies spiritueller Erleuchtung, ein Shangri-La zivilisationsmüder Schwarmgeister, das als positive Gegenwelt zur kalten Rationalität des Westens empfunden wird. Aber der folkloristische Schleier, der das Land umgibt, verstellt leider nur allzu oft den objektiven Blick auf Tibets Geschichte und politische Realität heute. Diesen und ähnlich einschlägigen Klischees tritt der Bildband „Tibet seit 1950“ mit eindrucksvollen Fotos, seinen informativen Textbeiträgen und authentischen Zeugenaussagen entgegen.

Bis zur Mitte des siebenten Jahrhunderts gehörte das tibetische Reich zu den führenden Mächten des eurasischen Kontinents, ab dem 13. Jahrhundert war Tibet ein Teil des mongolischen Reiches und später des Reiches der Mandschu-Kaiser, die China erobert hatten - zu keiner Zeit war es, wie die chinesische Propaganda behauptet, ein „integraler Bestandteil“ Chinas selbst. Im Oktober 1950, ein Jahr nach dem Sieg der Kommunisten im chinesischen Bürgerkrieg, marschierte die „Volksbefreiungsarmee“ in das bis dahin selbstständige Tibet ein. Der tibetischen Regierung blieb keine andere Wahl, als die von China diktierten Bedingungen für eine „friedliche Befreiung“ zu akzeptieren. Bis zu Chinas Überfall lebte etwa ein Drittel der Bevölkerung in den sechstausend Klöstern, die fast alle zerstört wurden. Dennoch ging der Widerstand gegen die Besatzungsmacht in den fünfziger Jahren vor allem von den buddhistischen Mönchen aus und führte 1959 zum offenen Aufstand in der Hauptstadt Lhasa. Nach der blutigen Niederschlagung des Aufstandes wurde die Regierung des Dalai-Lama aufgelöst. Mehr als hunderttausend Tibeter flohen daraufhin mit dem Dalai-Lama, ihrem geistigen und weltlichen Oberhaupt, vor den Repressionsmaßnahmen ins Exil nach Indien. Inzwischen hat die chinesische Provinzverwaltung Tibet jedoch fest im Griff. Durch die starke Zuwanderung von Chinesen in die Autonome Region Tibet werden Kultur, Religion, Sprache und der tibetische Charakter des Landes bewußt weiter an den Rand gedrängt. Werner Olles

Melissa Harris/Sidney Jones: Tibet seit 1950. Schweigen. Gefängnis oder Exil. Zweitausendeins, Frankfurt 2001, 184 Seiten, 28,10 Euro


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen