© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/02 01. Februar 2002

 
Ingo, bitte melde Dich!
Facetten des neuen Historikerstreits: Über „Junge Wilde“, ein neues Braunbuch und einen abgetauchten Rothfels-Kritiker
Stefan Weber

Es ließ sich alles so gut an. Den Schwarzen Peter, Hitlers willige Helfer gewesen zu sein, hatten sich auf dem Aachener Historikertag im Herbst 1998 die Versammelten fast demütig selbst zugeschoben. Was natürlich schon deswegen leicht fiel, weil die eigene „Schuld“ sich vergleichsweise gering ausnahm. Denn die noch aktiven bundesdeutschen Lehrstuhlinhaber hatten es aus schnödem Karrieredenken nur versäumt, die eigentlich Schuldigen, ihre Doktorväter, die einst unter reichsdeutschen Bedingungen avancierten, die Rothfels’, Schieders und Conzes, die Aubins und die Maschkes unter der Wasserfolter der Vergangenheitsbewältigung so lange zu malträtieren, bis sie gestanden hätten, wenigstens „Barbarossa“ ausgelöst und Auschwitz geplant zu haben.

Als Vertreter der Anklage warfen sich Enkel und Ur-Enkel, Schüler der Wehlers und Winklers, Schulzes und Kockas auf die nicht minder postengierigen „jungen Wilden“. Für medialen Widerhall sorgten deren Altersgenossen in den Feuilletons von FAZ, Zeit und SZ. So beschäftigten das Aachener Scherbengericht, ein tumultöses Berliner Tribunal (JF 11/99) und etwas moderatere Auftritte während des Frankfurter Historikertages im Herbst 2000 (JF 42/00) nicht nur ein Fachpublikum.

Im Jahr 2000 schien dann auch endlich handfestes Beweismaterial auf den Tisch zu kommen. Der fast 1000seitige Wälzer des Basler Geographen Michael Fahlbusch über die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ und die Hallenser Dissertation Ingo Haars über die „Deutsche Geschichtswissenschaft und den ‚Volkstumskampf‘ im Osten“. Beide vermitteln die seit Karl Marx nicht gerade neue Einsicht, daß Geistes- und Sozialwissenschaftler sich an der Ideologieproduktion zu beteiligen pflegen, und sich auch sonst auf mannigfaltige Weise bei der Politikberatung vordrängeln. Zwar brachte es zwischen 1933 und 1945 keiner dieser so engagierten Dozenten zum „Kanzlerberater“, aber, so Fahlbusch und Haar einmütig, in die „Vernichtungspolitik“ gerade dieses Kanzlers seien sie doch allemal tief, tief „verstrickt“ gewesen. Wobei Haar noch mit der besonderen Pointe aufwartete, in Hans Rothfels, einem aus der Emigration zurückgekehrten Gründervater westdeutscher Zeitgeschichte, wegen jüdischer Abkunft 1934 in Königsberg entlassen, einen frühen, über seine Schüler Werner Conze und Theodor Schieder mittelbar Verantwortlichen für die „ethnische Flurbereinigung“ in Osteuropa präsentieren zu können.

Entsprechend enthusiastisch fiel der Beifall der „kritischen“ Presse aus. Zeit, FAZ, taz & Co. fuhren das Thema „groß“, widmeten Fahlbusch und Haar spaltenlange Rezensionen, während sich beide Drachentöter noch ganz bescheiden damit abquälten, sich in der einstigen Hauszeitschrift Reemtsmas, 1999, wechselseitig lobend zu besprechen. So etwas hatten die Freunde nun wirklich nicht mehr nötig, wo Manfred Hettling Haars Opus in der Zeit vom 28. Juli 2000 als „Pionierstudie“ bejubelte, und der Potsdamer Historiker Christoph Kleßmann in der FAZ vom 21. Dezember 2000 außer sich vor Freude war über die aufklärerische Tat Haars, der den mörderischen „Zynismus“ der Altvorderen schonungslos entlarvt habe.

Entwurf eines BRD-Braunbuchs

Derart ermuntert, begannen Fahlbusch und Haar selbst mit Planungen großen Stils. Nach einem „Handbuch der völkischen Wissenschaft zwischen 1920 und 1960“ stand ihnen der Sinn. Drei hauptamtliche Redakteure hatten sie in einem Projektantrag dafür vorgesehen. Daß zwei davon Fahlbusch und Haar heißen sollten, verstand sich für die beiden Antragsteller von selbst. Für 2003 versprachen sie die Publikation des Handbuchs, das bis dahin Sach- und Personalkosten in Höhe von mindestens einer viertel Million Euro verschlungen hätte.

Ziel war der Nachweis einer irgendwie unheilvollen, methodischen, organisatorischen und programmatischen „Kontinuität in der Kulturwissenschaft im Zeitverlauf zwischen der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Bundesrepublik Deutschland“. Was sich die Geldgeber unter „völkisch“ überhaupt vorstellen sollten, konnten Haar und Fahlbusch freilich nie zu begrifflicher Klarheit bringen. Nur daß die derart als „Völkische“ verdächtigten deutschen Wissenschaftler „ethisch den Boden der Zivilisation“ verlassen hätten und ihre Arbeit zwangsläufig „in die Barbarei des Nationalsozialismus“ einmünden mußte, stand apodiktisch schon mal fest. Natürlich auch, daß sich die nach 1945 wieder etablierten Historiker der BRD erst in den fünfziger, die Ostforscher unter ihnen gar erst in den siebziger Jahren, nachdem „Willi (!) Brandt 1972 die Oder-Neiße-Grenze“ anerkannt habe, von „antiwestlichen und autoritären Topoi“ hätten lösen können.

Eine derartige Diktion, der polemisch sehr praktikable Gummibegriff des „Völkischen“ anstatt des einst so gängigen „Faschismus“-Etiketts, der geschichtstheologische Konstruktivismus „unheilvoller“ deutscher Kontinuitäten - dies alles erinnert nicht zufällig an die Machart der DDR-Braunbücher, deren letzte Ausgabe 1968 erschien, bevor es im Zeichen nahender „Entspannung“ im Büro Albert Nordens nicht mehr opportun war, das Bonner Personal, wie es im Vorwort von 1968 geschah, als „Kriegs- und Naziverbrecher“ zu denunzieren und die „innere Kontinuität der Innen- und Außenpolitik des heute in Westdeutschland herrschenden Regimes mit der Politik des Nazi-Staates“ zu behaupten.

Man mag darüber spekulieren, warum dieses volkspädagogisch so verheißungsvolle „Projekt“ die Geldquellen nicht in dem von den Antragstellern erhofften Umfang sprudeln ließ, so daß Haar zunächst bei einem interdisziplinären Unternehmen der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Geschichte der Bevölkerungswissenschaft ein Auskommen suchen mußte.

Man möchte hoffen, daß uns eine bundesdeutsche Version des Braunbuches auch deshalb vorerst erspart geblieben ist, weil im Jahr 2000 schon leise Zweifel an der wissenschaftlichen Seriosität von Fahlbusch und Haar aufkamen, die sich 2001 zu kritischen, wenn auch nur für die Fachkollegen bestimmten Publikationen verdichteten. So teilte zuerst Willi Oberkrome (Münster) im Internet-Rezensionsdienst der Berliner Humboldt-Universität vorsichtige Einwände gegen Haars Vereinfachungen mit. Es folgte der Stuttgarter Emeritus Klaus Hornung, der in einer Studie über seinen Tübinger Lehrer „Hans Rothfels und die Nationalitätenfragen in Ostmitteleuropa 1926-1934“ (Kulturstiftung der dt. Vertriebenen, Bonn 2001) die ganze, von Haar ignorierte Komplexität der in Versailles diktierten „Neuordnung“ in diesem „Krisenraum“ vergegenwärtigt und so eindrucksvoll die handwerklich unsolide, ahistorische Verfahrensweise von dessen Rothfels-Interpretation demonstriert.

Ein schwerer Schlag traf Haar bald darauf aus unvermuteter Richtung. Der Berliner Zeithistoriker Heinrich August Winkler, bekennender Sozialdemokrat, veröffentlichte in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte (4/01) eine Miszelle mit dem harmlos klingenden Untertitel „Quellenkritische Bemerkungen zu Ingo Haar...“ Dem bislang gefeierten Junghistoriker und Vertreter einer diesmal unter linksliberalen Vorzeichen angetretenen „kämpfenden Wissenschaft“, dessen vermeintliche Forschungsresultate inzwischen auch unkritisch in der politischer Bildung verpflichteten Wochenzeitung Das Parlament (Nr. 22-23/01) kolportiert wurden, bescherte Winkler gleichwohl ein schmerzliches Cannae-Erlebnis.

Adolf Hitler mit Friedrich Ebert verwechselt

Denn die für Haars Beweisführung so zentrale Königsberger Rede zum Thema „Der deutsche Staatsgedanke von Friedrich dem Großen bis zur Gegenwart“, mit der Hans Rothfels im Februar 1933 angeblich Hitlers Machtergreifung begrüßte, wurde drei Jahre früher gehalten. Was Winkler mittels einer Überprüfung des im Rothfels-Nachlaß (Bundesarchiv Koblenz) überlieferten Manuskripts und einer Recherche bei der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv in Frankfurt/M. nachweist, wo die Programmzeitschrift „Königsberger Rundfunk und Ostdeutsche Illustrierte“ die Erstsendung am 23. Januar 1930 dokumentiert. So kann Winkler locker das für Haar abgrundtief peinliche Fazit ziehen: „Haar verwechselt erst Ebert mit Hindenburg und dann Hindenburg mit Hitler. Folgerichtig verwechselt er auch die Weimarer Republik mit dem ‚Dritten Reich‘“. Ein Assistenzarzt, der sich im OP einen vergleichbaren Kunstfehler erlaubte, hätte nicht nur dem Leben des Patienten, sondern auch seiner eigenen chirurgischen Laufbahn ein abruptes Ende gesetzt. Unnötig zu sagen, daß für Winkler Rothfels kein „radikaler Republikfeind“ (Haar), sondern ein „konservativer Vernunftrepublikaner“ war, der zu keinem Zeitpunkt gefordert habe, was ihm Haar unterstelle: „die Vertreibung der polnischen Bevölkerung aus den ehedem preußischen Ostgebieten“.

Nachdem das deplorable Niveau seiner aus geschichtspolitischen Interessen „gepuschten“ Dissertation derart, und - wie mit Blick auf die gerade erst anlaufende Beurteilung in den Fachorganen zu vermuten ist - wohl nicht das letzte Mal offengelegt worden ist, hüllt sich der Angegriffene in vornehmes Schweigen. Volker Ullrich, der für die Rezension zeitgeschichtlicher Neuerscheinungen in der Zeit zuständige Redakteur, ein Mitverantwortlicher für die Haar-Eloge in seinem Blatt, forderte daher schon gleich nach Erscheinen von Winklers Miszelle leicht verzweifelt: der Gescholtene täte gut daran, wie von seinem Kritiker gefordert, sich öffentlich zu korrigieren (Die Zeit 6. Dezember 2001). An Haars Stelle und ganz mit dessen staatsanwaltlicher Attitüde, äußerte sich dann Karl-Heinz Roth, einstiger Aktivist aus dem RAF-Umfeld, den Jochen Staadt in der FAZ ungestraft als Mielke-Zuträger titulieren darf. Roth, den Ullrich „einen der interessantesten Außenseiter unter den deutschen Historikern“ nennt (Die Zeit, 10. Januar 2002), will Entlastungsmaterial für Haar liefern (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 12/01). Nur nimmt der unbedarfte Ullrich die gute Absicht schon für die Tat. Glaubt er doch, Roth habe Rothfels’ von der Forschung noch nicht rezipierte Tagespublizistik von 1932/33 herangezogen und nachgewiesen, daß der Königsberger Historiker darin der „Entbindung einer aggressiven Expansionspolitik nach 1933“ vorgearbeitet habe. Tatsächlich hat Roth aber nicht, wie man doch wohl erwarten darf, die noch zugänglichen Königsberger Tageszeitungen studiert, sondern einen (!) im Koblenzer Nachlaß überlieferten Presseausschnitt zur Stützung seiner These ausgegraben. Eine Haar wahrhaft kongeniale „Methode“! Mit Volker Ullrich hoffen wir darum auf die nächste Runde in diesem Historikerstreit.


 
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