© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/02 01. Februar 2002

 
Schuld sind immer die anderen
von Falko Gramse

Ob der Siegeszug der Schill-Partei weitergeht, oder ob es sich bei dem Wahlergebnis vor drei Monaten in Hamburg um eine Einzelerscheinung handelt, ist offen. Bemerkenswert bleibt der Vorgang allemal. Noch nie hat eine neu gegründete Partei es geschafft, einen derartigen Wahlerfolg zu erreichen wie die „Partei Rechtsstaatlicher Offensive“.

Wie ist dieses Phänomen zu erklären? Das Wahlprogramm, der Wahlkampf und der anschließende Wahlerfolg mit fast 20 Prozent in Hamburg haben das Thema „Recht, Sicherheit und Ordnung“ wieder vorrangig in die politische Diskussion gebracht, zumal sich diese neue Partei auf andere Bundesländer ausdehnen will. Wer zuvor für eine Art „Null Toleranz“ und für harte Strafen und damit für eine sogenannte Generalprävention zur Verteidigung der Rechtsordnung und zum Schutz der rechtstreuen Bürger plädierte, wurde als gnadenloser oder herzloser Mensch beschimpft, der unter anderem nicht erkennen wolle, daß vielfach die gesellschaftlichen Verhältnisse oder psychologische Defekte den Täter zu seinen Straftaten getrieben hätten, was erheblich strafmildernd zu berücksichtigen sei.

Doch jetzt hat bei den Rechts- und Innenpolitikern der etablierten Parteien ein Umdenken begonnen, vielleicht auch im Hinblick auf die Konkurrenz durch die Schill-Partei. Es wird wieder daran erinnert, daß Recht und Ordnung und ihre Durchsetzung seit der Antike zu den tragenden Grundsätzen einer zivilisierten Gesellschaft gehören.

In der Kritik der Mehrheit der Bevölkerung stehen die zu lange dauernden Strafverfahren und ferner die zu milden Strafen. Viele sind der vordergründigen Auffassung, daß man in der DDR besser vor Kriminalität jeder Art geschützt gewesen sei. Eine große Mehrheit der Bundesbürger halten die Strafverfolgung und die Strafzumessung bei der Verurteilung überführter Täter für zu milde. Dieser Auffassung kann eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen werden. Ein stetiger Anstieg der Kriminalität wird ferner befürchtet, ausgelöst durch zu lasche Strafverfolgung und zu milde Bestrafungen. Insbesondere die Kriminalität meist international organisierter Banden, die Jugendkriminalität und die Gewaltkriminalität machen den Bürgern zunehmend Angst.

Andererseits ist deswegen bei den Politikern anzumahnen, daß die Bürger eine Art Grundrecht auf Schutz vor Straftaten haben. Dieses Grundrecht läßt sich insbesondere aus Artikel 2 des Grundgesetzes (GG) herleiten, der die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die persönliche Freiheit sowie das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit schützt und damit garantiert. Außerdem haben die Staatsorgane nach Artikel 1, Satz 2 GG die Verpflichtung, die Würde des Menschen zu schützen und ihn damit vor Straftaten möglichst zu bewahren. Das daraus herzuleitende Grundrecht auf Schutz vor Straftaten bedingt mithin, daß der Staat mit seinen Strafverfolgungsorganen die grundsätzliche Verpflichtung hat, seine Bürger möglichst optimal vor der Begehung von Straftaten zu schützen.

Demgemäß enthält unser Strafprozeßrecht auch die bindende Verpflichtung des Staates und damit für die staatlichen Strafverfolgungsorgane - Staatsanwaltschaft und Polizei -, bei jedem Anfangsverdacht einer Straftat von Amts wegen die Strafverfolgung einzuleiten (Legalitätsprinzip - Verfolgungszwang), um den Täter in einem staatlichen Rechtsschutzverfahren der Bestrafung durch das Gericht zuzuführen, sofern ihm das vorgeworfene strafbare Verhalten nachzuweisen ist.

Das bedeutet, sobald zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, daß die sich aus einer Strafnorm ergebenden Voraussetzungen für die Annahme einer Straftat konkret vorliegen, sind die Strafverfolgungsorgane ausnahmslos verpflichtet, „einzuschreiten“, das heißt, Ermittlungen aufzunehmen und gegebenenfalls auch eine Anklage zu erheben. Das Legalitätsprinzip, das heute den ersten Teil unseres Strafverfahrens beherrscht, bedeutet Verfolgung gegen jeden Verdächtigen. Jede Willkür soll schon wegen des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes und wegen der Wiederherstellung des durch die Straftat gebrochenen Rechtsfriedens ausgeschlossen sein, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, ob wegen einer gerichtlich strafbaren und verfolgbaren Handlung eingeschritten werden soll oder nicht.

Wollte man es dem Ermessen der Staatsanwaltschaft als Trägerin des staatlichen Anklagemonopols überlassen, ob sie die Einleitung eines Strafverfahrens für opportun hält, würde die große Gefahr bestehen, daß eine Straftat selbst bei Vorliegen zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte nicht verfolgt würde, weil die Strafverfolgung nicht zweckmäßig oder inopportun erschiene.

Sogenannte„rechtsfreie Räume“ wie einst in Hamburg, oder, strafrechtlich betrachtet, unantastbare Personen, darf es mit Ausnahme der Straflosigkeit parlamentarischer Äußerungen und Berichte und mit Ausnahme der Immunität der Diplomaten und ihnen gleichgestellter Personen nicht geben, da andernfalls das Vertrauen der Rechtsgemeinschaft der rechtstreuen Bürger in den Rechtswillen des Staates erschüttert wird. Die Verfolgung von Straftaten, die in germanischer Zeit fast gänzlich dem Verletzten oder beim Tod des Opfers seiner Familie (Sippe) überlassen war, ist bereits im Verlauf des Mittelalters in fast allen Ländern West- und Mitteleuropas immer mehr auf die Staatsgewalt übergegangen und obliegt heute mit Ausnahme des strafprozessualen Privatklageverfahrens für die Verfolgung bestimmter Straftaten besonders durch den Verletzten ausschließlich dem Staat. Dafür haben die Staatsbürger dem Staat das Gewaltmonopol übertragen.

Aber daraus folgt doch konsequenterweise, daß der Staat mit seinen Sicherheitsorganen im Sicherheits- und Friedensinteresse seiner Bürger für diese mit einer zielstrebigen Vorbeugung gegen Straftaten auch durch Nichtzulassung rechtsfreier Räume, zum Beispiel im Drogenbereich, und mit einer zielstrebigen Strafverfolgung und Bestrafung handeln muß. Nur dann erfüllt der Staat die ihm auferlegte Friedens- und Justizgewährungspflicht, die das Korrelat zu dem Offizialprinzip ist, nach dem die Strafverfolgung und das Strafen grundsätzlich dem Staat für die Rechtsgemeinschaft obliegen.

In und seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde in der Rechtspolitik und leider auch in der Rechtswissenschaft mehr und mehr die angeblich moderne These vertreten, das ausschließliche „Bestrafen“, insbesondere das „harte Bestrafen“ gemäß der Strafandrohung und dem Strafrahmen der verletzten Strafnorm sei nicht mehr zeitgemäß. Vielmehr müsse man versuchen, die Täter und ihre kriminellen Verhaltensweisen zu verstehen, müsse man ihnen helfen, müsse man sie therapieren, um sie auf diese Weise von ihren krankhaften kriminellen Neigungen zu heilen und dadurch einen Rückfall verhindern. Und mit dieser Begründung bemühten sich dann viele Rechtspolitiker und Wissenschaftler, die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität nicht primär durch harte Strafen zur Abschreckung sondern durch folgende Maßnahmen zu erreichen: Kinder- und Jugendpsychologen, Familienbetreuer, Schulpsychologen, Schulverhaltenstrainer, Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, Jugendpfleger, Jugendsozialarbeiter, Sozialbetreuer, Jugendsoziologen, Jugendgerichtshelfer, Heimerzieher, Antiaggressionstrainer, Aggressionsforscher, Suchtforscher, Kriminalsoziologen und Kriminalpsychologen, Sozialbiologen, Sozialseelsorger, Kriminologen sowie im Strafvollzug tätige Psychologen und Sozialtherapeuten, Bewährungshelfer und Mitarbeiter von lntegrationshilfen vereinen. Dabei sah und sieht man heute noch vielfach den Menschen durch die Brille kritisch-aufgeklärten Denkens als im Grunde gut und edel an. Nur die kapitalistisch-brutale Gesellschaft habe ihn verdorben und kriminell gemacht. Aber trotz all der angedeuteten „Heilungsbemühungen“ ist die Kriminalität nicht weniger, sondern mehr geworden, vor allem die Eigentums- und Gewaltkriminalität jeglicher Art, von der ständig zunehmenden Wirtschaftskriminalität einmal abgesehen. Dem hat meines Erachtens auch die Strafzumessungsrechtsprechung insbesondere der Obergerichte (Langericht, Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof) Vorschub geleistet, die zu weniger Strafe und damit zu mehr Milde tendiert, wie zum Beispiel zu übermäßig viel Bewährungsstrafen, Resozialisierungsmaßnahmen und großzügigem Hafturlaub.

Der Vorsitzende der PRO, der ehemalige Richter am Amtsgericht, Ronald Schill, und einige, leider zu wenige andere Amtsrichter sind dabei eine rühmliche, aber vielfach gescholtene Ausnahme. Doch sie können sich gegenüber den höheren Gerichtsinstanzen nicht durchsetzen. Vielfach wird nur ein Drittel des gesetzlich vorgegebenen Strafrahmens ausgeschöpft. Diese angeblich moderne oder fortschrittliche Entwicklung der Strafverfolgung und des Strafens kann man ohne Übertreibung die Geschichte der langsamen Abschaffung des Strafens nennen. Immer wieder treten in Strafverfahren psychiatrische Sachverständige auf, die dann dem Angeklagten häufig bescheinigen, strafrechtlich nicht oder nur vermindert schuldfähig gewesen zu sein, weil er zum Beispiel zur Tatzeit stark alkoholisiert gewesen sei oder unter dem Einfluß von anderen Rauschmitteln gestanden habe.

Im Hinblick auf diese Entwicklung ist es nun wirklich nicht verwunderlich, daß viele Bürger das Vertrauen in die Strafjustiz und dadurch in die Rechtspolitik verlieren und sich deswegen veranlaßt sehen, eine Partei zu wählen, die „Law and Order“ verspricht. Angesichts der Skrupellosigkeit und Brutalität, mit der Kriminelle vielfach vorgehen, erleben offensichtlich Wähler aus allen Schichten den liberalen Umgang mit Kriminellen als Widerspruch zwischen Recht und Gerechtigkeit. Und die vielen Sicherheitsunternehmen sind auch Ausdruck eines mangelnden Vertrauens in die Wirksamkeit staatlichen Schutzes vor Straftaten. Ändert sich nichts und werden die Bür- ger dadurch immer unsicherer, hat die Schill-Partei auch in anderen Bundesländern wohlbegründete Wahlchancen und zwar in einer Höhe, von der Grüne und FDP nur träumen können, wie das Wahlergebnis in Hamburg und Umfragen von Meinungsforschungsinstituten beweisen.

Denn viele Bürger sind nicht mehr bereit, die lasche und ihrer Meinung nach zu milde Strafrechtsprechung sowie die unzulängliche Verhinderung von Straftaten zu akzeptieren. Aber dies liegt insbesondere an der Überlastung der Justiz und der Polizei, ohne daß dem durch eine entsprechende Personalausstattung Rechnung getragen wird. Auch die technische Ausstattung läßt zu wünschen übrig. Sie entspricht nicht dem modernen Standard. Straftäter sind vielfach wesentlich besser ausgerüstet. Laptops und Funktelefone müßten zur Standardausrüstung von Polizeibeamten und Staatsanwälten gehören.

Aber auch die Gestaltung des Strafverfahrens nach der Strafprozeßordnung und dabei das sehr komplizierte Beweisverfahren führen zu einer dem Bürger unverständlich langen Prozeßdauer mit vielen Hauptverhandlungsterminen, häufig auch durch geschickte Strafverteidiger verursacht. Denn zum „Handwerkszeug“ eines jeden versierten Strafverteidigers gehören die Anträge, das Gericht sei nicht zuständig, das Gericht sei nicht richtig besetzt, die Schöffen seien nicht richtig ausgewählt worden, der oder die Richter seien befangen und würden deswegen abgelehnt. Ferner gehört es zur grundlegenden Verteidigungsstrategie eines guten Strafverteidigers, den Antrag zu stellen, ein eventuell vorliegendes Geständnis des oder der Angeklagten als Beweismittel nicht zu verwerten, da der oder die Angeklagte vor Abgabe des Geständnisses nicht prozeßordnungsgemäß über seine bzw. ihre Rechte, die Aussage zu verweigern und/oder vor der Vernehmung einen zu wählenden Verteidiger zu befragen, belehrt worden sei. Das bedingt dann häufig eine längere Beweisaufnahme.

Außerdem kann der Verteidiger jede Menge Beweisanträge auf Vernehmung von Zeugen und auf Anhörung von Sachverständigen stellen. Auch wenn der Beweiswert mehr als zweifelhaft ist bzw. voraussichtlich sein wird, darf das Gericht die Ladung und Vernehmung nicht mit der Begründung ablehnen, daß der Angeklagte oder die Angeklagte bereits genügend beweissicher überführt sei. Daß immer wieder Beweisanträge der Verschleppung des Strafverfahrens dienen, um nach langer Prozeßdauer eine möglichst milde Bestrafung zu erreichen, läßt sich schwer nachweisen.

Der Verteidiger versucht, häufig mit Erfolg, sogenannte Belastungszeugen zu verunsichern mit der Folge, daß der Beweiswert ihrer Aussage angezweifelt wird. Manche Verteidiger versuchen auch, Zeugen zur Hauptfigur des Prozesses zu machen.

Als Ergebnis dieser Taktik erscheint der Zeuge als derjenige, der sich zu rechtfertigen hat, obwohl er eventuell das Opfer der Straftat ist. Eine weitere Strategie der Verteidigung wird „Taktik des rechten Augenblicks“ genannt. Wenn das Gericht, ermüdet von der langen Sitzung, mit dem baldigen Ende der Hauptverhandlung rechnet und ersichtlich zum Freispruch neigt, stellt der Verteidiger einen (weiteren) Beweisantrag. Dadurch erreicht er eventuell, daß der oder die Richter die tragenden Gründe für einen Freispruch, also die konkreten Zweifel an der Tatbegehung durch den Angeklagten stärker wahrnimmt bzw. wahrnehmen. Hier nutzen die Verteidiger geschickt eine menschliche Schwäche aus, der sich auch Richter nicht entziehen können.

Auch Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft sind nicht selten. Ein erfolgreicher Strafverteidiger muß nicht unbedingt ein guter Jurist sein. Er muß nur die Strafprozeßordnung optimal beherrschen, und er muß eloquent sein, das heißt, er muß ein guter Rhetoriker und Psychologe sein, um mit seinem Verteidigungsvortrag entweder das Beweisergebnis, das gegebenenfalls zu Lasten seines Mandanten spricht, zu „zerpflücken“, oder für die Strafzumessung so viel Milderungsgründe vorzutragen, daß dann das Gericht die Strafe im unteren Bereich des Strafrahmens festsetzt und eventuell für die Vollstreckung der Strafe Aussetzung zur Bewährung bewilligt. Es gibt Verteidiger, deren Schlußvortrag, Plädoyer genannt, vielfach darauf abzielt, ihren Mandanten, den Angeklagten, als bedauernswertes „Opfer der Gesellschaft“ darzustellen.

Das alles führt dazu, daß sich bei den Bürgern immer mehr die Meinung bildet, der Rechtsstaat sei letztendlich ein Verbrecherschutzstaat, der sich nicht konsequent genug um die Verhinderung und Verfolgung von Straftaten und um die Opfer von Straftaten kümmere. Demgemäß werden sich Wahlerfolge einer Partei wie der von Ronald Schill in Hamburg auch in anderen Bundesländern, insbesondere in den neuen Bundesländern, einstellen - Bayern eventuell ausgenommen -, bis die Rechtspolitik Recht und Ordnung und Sicherheit wieder den obersten Stellenwert bei der Verhinderung, Verfolgung und Aburteilung von Straftaten einräumt. Unser Staat ist in erster Linie den Opfern von Straftaten verpflichtet.

 

Falko Gramse, Jahrgang 1935, ist Richter am Amtsgericht a.D. und Dozent an der Landespolizeischule Berlin.


 
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