© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/02 08. Februar 2002

 
Sieben Sünden beim Aufbau Ost
von Manfred Graf von Schwerin

Der Erfolg hat bekanntlich viele Väter. Als Vollwaise kommt dagegen der Mißerfolg daher. Was die Ereignisse nach Mauerfall und Herstellung der ersehnten staatlichen Einheit in Deutschland angeht, sind zwar die Verdienste und/oder die Rollen führender Politiker beim Mitwirken an der schnellen Umsetzung der Vereinigung objektiv ziemlich unstrittig. Ein Hauptverdienst für das Tempo von 1989/90 - auch das dürfte klar sein - kommt dabei den Bürgern der damaligen DDR und vorrangig den Widerständlern aus der Bürgerbewegung zu. Etliche Politiker hatten es bekanntlich nicht so eilig.

Wenn die Oppositionellen der DDR nun zunehmend in Vergessenheit geraten (sollen?), so beleuchtet diese fortschreitende Entwicklung die neue Lage in ebenso erschreckender Weise wie die Undankbarkeit gegenüber den Helfern und Vorreitern aus Polen und Ungarn beim Aufbrechen des Eisernen Vorhangs. Will man aber unter den so radikal veränderten und zum Teil extrem verschlechterten Bedingungen einen neuen konstruktiven Anlauf zum „Aufbau Ost“ und zur inneren Einheit unternehmen, so lohnt es sich, vorab die Ausgangslage nüchtern zu analysieren und das Ergebnis der Entwicklung seit 1990 in klaren Umrissen zu skizzieren.

Gegen „sieben Sünden“ müßte angegangen werden, ein professioneller und möglichst unabhängiger Krisenstab oder Lenkungsausschuß müßte die Konsequenz ziehen aus dem gegenwärtigen Desaster und dazu anregen, daß endlich gehandelt wird. Und die verantwortliche Politik müßte sich durchringen zu Wahrhaftigkeit und neuer Ehrlichkeit im Kampf gegen die Folgen der Kardinal-Sünden, die nach der Jahrhundert-Chance der Deutschen begangen wurden.

Erstens: Der 1990 und danach versäumte Austausch der SED/DDR-Funktionseliten - ja sogar deren Übernahme und begünstigtes Fortwirken ins vereinigte Deutschland - zeigt sich jetzt in seiner ganzen schwerwiegenden Konsequenz. Die in Stufen sich vollziehende Rückkehr zu den politischen Schalthebeln nach kaum vorstellbarer wirtschaftlicher Absicherung hat bereits dazu geführt, daß die 1989/90 gestürzte kommunistische Führungskaste im Jahre 2002 über eine - wenn nicht die - entscheidende Machtposition verfügt. Begonnen hatte die Rückkehr der Nomenklatura zwar schon mit dem Tätigwerden der unter den Regierungen Modrow und de Maizière eingerichteten Treuhandanstalt, in die bekanntlich zahlreiche Kader und Vertraute eingeschleust und auf entsprechende Vorgehensweise verpflichtet wurden. „Es ging alles sehr schnell. Man schaute sich an und verstand sich“, so ein Zeitzeuge. Die potentiellen Investoren und Aufbauwilligen aus jenen Tagen wissen ein Lied von dem zu singen, was dann geschah. Die wenigen inzwischen „aufgeflogenen“ Korruptionsfälle beleuchten die Szenerie zwar, die Dimension des tatsächlichen Geschehens bedarf aber noch einer Dokumentation durch Historiker und Kriminologen.Fest steht heute, daß spätestens 1992 der Grundstein zu einer Art „Kehrtwende“ der Wiedervereinigung gelegt war. Und die „bürgerlich-konservativen“ Bundes- und Landesregierungen und die ihr nachgeordneten Stellen sahen zu - oder richtiger: sie sahen weg.

Dabei wäre eine politische Kurskorrektur stets möglich gewesen. Sie war oft genug angemahnt worden. Den politisch Verantwortlichen der Kohl-Regierung - soviel ist sicher - war diese „Schieflage“ nicht entgangen. Sie waren nicht fähig oder willig, die Konsequenzen aus der Fehlsteuerung zu ziehen. Also konnte der „Marsch in die Institutionen“ fortgesetzt werden: Arbeitsämter und Agrarverwaltungen, Parteiapparate - gleichgültig, welcher Couleur und Förderinstitutionen - waren die nächsten Heimstätten als Ausgangspunkte der fortwirkenden DDR-Wirklichkeit. Was man nun heute in den Regierungen dreier Bundesländer erlebt, neuerdings auch mit einem Höhepunkt in der Hauptstadt, ist dabei nur die Spitze des Eisbergs: Die DDR-Altkader und ihre Netze samt Mitläufern aller Bereiche verfügen über einen wirtschaftlichen Hintergrund, der etwaigen zukünftigen Investoren im Osten noch das Fürchten lehren wird. Und viele leider gezielt abschrecken dürfte, wofür es heute schon Beispiele gibt.

Zweitens: Die zunehmende Belastung und aktive Behinderung beim „Aufbau Ost“, insbesondere auch durch Ableitung von Transfermilliarden in andere Kanäle, hat in erheblichem Umfang zur Entwicklung mafioser Strukturen beigetragen, zum Beispiel im ländlichen Raum, in Parteien und Verwaltungen. In Kürze werden dies vertiefende Forschungsarbeiten zusätzlich belegen.

Allerdings sollte man auch die Ansätze zur Gegenwehr nicht übersehen: Über die Mobilisierung der Öffentlichkeit und den Unmut der inzwischen entnervten Steuerzahler über das „Faß ohne Boden“ wegen der wirtschaftlichen Mißerfolge beginnt jetzt die Aufklärung über Kontrolle und Verbleib der versickerten Fördermilliarden. Ein Stop des Trends könnte erreicht werden, wenn eine neue Politik bereit ist, konsequent und unabhängig vorzugehen. Daß viele Insider dies für eine Illusion halten, sollte uns trotzdem nicht hindern, darauf hinzuarbeiten, daß es zu einem Wandel kommt. So mancher Wechsel kam bekanntlich schon schneller als erwartet, zumal wenn „das Faß überläuft“ und der Ernst der Lage durch plötzliche Schlaglichter ins öffentliche Bewußtsein gerückt wird.

Die versäumte Beschlagnahme der Vermögen der SED und der ihr nachgeordneten DDR-Organisationen, zum Beispiel die „Nationale Front“, hat entscheidenden Anteil an dem schon 1991 einsetzenden Restaurationsprozeß in der Ex-DDR. Zum einen konnte problemlos der Umbau der SED zur PDS durchgeführt und finanziell abgesichert werden, was sich alsbald in sechsstelligen Wahlkampfbudgets niederschlug. Zum anderen wurde es den Altkadern und „Rechtsnachfolgern“ möglich gemacht, ihr zeitgemäßes Netz zu knüpfen, aktionsfähig zu werden und - Beispiel ländlicher Raum - dafür zu sorgen, daß ab 1994 praktisch nichts mehr an ihnen, vor allem wirtschaftlich, vorbeigehen konnte.

Drittens: Die de-facto- Aufrechterhaltung der längst entlarvten und objektiv völlig unhaltbaren „Vorbedingungs“-Lüge über die angeblichen Sowjet-Bedingungen zur Beibehaltung und Nicht-Wiedergutmachung der Konfiskationen und Verfolgungsmaßnahmen 1945-1949 hat zur nachhaltigen und fortwirkenden Schädigung des Rechtsstaats, zu katastrophaler Ungleichbehandlung und ständig wachsenden Zweifeln an Politik und Justiz geführt. Von Rechtsfrieden weit und breit keine Spur, dagegen von Verfahren auf internationaler Ebene, die zugleich die Blamage der deutschen Justiz dokumentieren. Mußte es wirklich erst dazu kommen, daß deutsches Unrecht nun ab 2002 auf der internationalen Bühne dargestellt und praktisch übergeordneter Justiz überlassen wird? Dies steht jetzt mit dem spektakulären Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bevor. Und natürlich gehört hierzu auch - wegen der Wettbewerbsverstöße - das Verfahren vor dem Europäischen Gericht Erster Instanz in Luxemburg, wo am 7. März 2002 die erste mündliche Verhandlung stattfinden wird. Eine besonders unrühmliche Rolle spielen auch eine Reihe von Verwaltungsgerichten, die sich offenbar lediglich als „verlängerten Arm“ der Verwaltungen betrachten und durch eine ganze Serie von - übrigens dokumentierten - nicht nachvollziehbaren Urteilen die Rechtsstaatlichkeit nachhaltig gefährden und dem Rechtsbewußtsein, besonders in den neuen Ländern, schweren Schaden zufügen. Allein die künstliche Komplizierung klarer Sachverhalte, im wesentlichen wohl in der Absicht, die angebotene rechtliche Lösung nahezulegen, hat sich in gleich doppelter Hinsicht zu einer schweren Hypothek für das neue Deutschland entwickelt: Recht und Rechtsstaatlichkeit werden unverständlich und unglaubwürdig, Wirtschaft und Aufschwung sowie die Bereitschaft zur Investition werden ausgebremst.

Der Objektivität wegen muß allerdings auch auf die Ausnahmen hingewiesen werden: In der Zivilgerichtsbarkeit, gerade auch beim Bundesgerichtshof, gibt es - Beispiel Landwirtschafts-Anpassungsgesetz - verantwortungsbewußte Entscheidungen. Nur werden diese wegen der Altkadernetze vor Ort nicht oder nur äußerst schleppend umgesetzt. Und die Justizverwaltungen lassen sich ihre Aushebelung achselzuckend gefallen.

Viertens: Bis heute werden Hunderttausende von kleinen und großen, durch Heimatverbundenheit und Eigentum hochmotivierte Investoren für die neuen Länder praktisch ausgesperrt. Offiziell sind das insgesamt immerhin 2,2 Millionen Restitutionsberechtigte. Über den schleppenden, stagnierenden und zum Teil sogar rückläufigen Aufbau Ost wegen des fehlenden Mittelstandes zu klagen, ohne die Gründe ehrlich zu benennen, nützt nichts. Und immer neue Geld-Transfers für ABM und ähnliche Einrichtungen schaffen weder Handwerk noch Gewerbe vor Ort.

Rechtswidrige Verkäufe von Beuteland und Beuteimmobilien führen - von der Rechtswidrigkeit abgesehen - häufig zu gigantischen Fehlinvestitionen, für die es Tausende von Beispielen gibt.

Besonders bitter ist die Tatsache, daß als Folge der Ausgrenzung der engagierten vertriebenen Bürger unzählige wertvolle Gebäude, Bürger- und Herrenhäuser, denkmalgeschützte Gebäude-Ensembles und alte Dorfkirchen dem Verfall oder Abriß überlassen werden. „Ruinen schaffen ohne Waffen“, so nannte dies ein aufrüttelnder Fernsehbeitrag. Diese unverantwortliche Zerstörung und Vernachlässigung unwiederbringlicher Werte zum Schaden des ganzen Landes und seiner Kultur hat eine Hauptursache im Eigentumsunrecht seit 1991.

Fünftens: Die bisherige Beibehaltung und nach 1998 eingetretene Verschlimmerung der ungesunden Agrarstruktur über fortgesetzte Rechtsverstöße hat in den ländlichen Räumen bereits jetzt zu verheerenden Folgen geführt. LPG-Nachfolger werden trotz nachgewiesener rechtswidriger oder juristisch gescheiterter Umwandlung mit Subventionen in Milliardenhöhe gefördert. Manche Regionen befinden sich zu
70- 90 Prozent der Flächen in der Hand von Ex-Agrarfunktionären der SED.

Eindeutig ist, daß die Auswirkungen auf das ohnehin labile Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat bei der ländlichen Bevölkerung erkennbar sind. Die hohen Zahlen der Wahlenthaltung bzw. Protestwähler belegen dies ebenso wie der erkennbare Rückfall in DDR-Mentalität im Bereich der sozialen Erwartungen und des passiven Verhaltens in Wirtschaft und Politik, die sich in der Scheu vor alledem ausdrückt, was den deutschen Wiederaufbau nach 1945 auszeichnete: Unternehmensgeist, Risikobereitschaft, selbstverantwortliches Handeln. Solange sich hieran nichts ändert, werden gesunde Strukturen auf sich warten lassen, vom blühenden Mittelstand ganz zu schweigen.

Sechstens: Die versäumte und zunehmend hintertriebene Gleichbehandlung von SED- mit NS-Opfern bei der Wiedergutmachung hat zu einer Täterbegünstigung großen Stils geführt, so bei der Stasi-Rentenerhöhung bei gleichzeitiger Ablehnung angemessener Entschädigungen für Verfolgungsopfer. Diese Entwicklung kann die politisch Verfolgten der SED-Diktatur zum massiven Widerstand veranlassen und bedeutet einen Tiefschlag für Recht und Gerechtigkeit mit allen ihren Folgen für das freiheitlich-demokratische System.

Siebtens: Die fehlende oder halbherzige Kontrolle über die jährlichen Milliarden-Transfers, insbesondere aus den alten Bundesländern - zusammen bisher über 1,3 Billionen Mark - trotz deutlicher Hinweise und Belege schwächen die gesamtdeutsche Wirtschaftskraft und sind mit dafür verantwortlich, daß die Bundesrepublik neuerdings Schlußlicht beim europäischen und internationalen Wirtschaftswachstum ist und 2002 wahrscheinlich nicht einmal mehr objektiv die Maastricht-Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft erfüllen kann. Wer hätte dies noch vor fünf Jahren gedacht: Die Bundesrepublik als selbsternannter Gralshüter der Stabilität in der europäischen Gemeinschaft, mit ständig erhobenem Zeigefinger dastehend und prätentiös auf die schwächeren und vor allem kleineren Mitgliedsländer hinweisend, sieht sich nunmehr mit einer Abmahnung des spanischen EU-Kommissars Solbes konfrontiert. Außerdem beleuchten die Brüsseler Wettbewerbshüter zu Recht die blamable Rolle des größten Mitgliedsstaates im Bereich der Beihilfen: Nach zwölf Jahren kann die BRD immer noch nicht auf die Wettbewerb verzerrenden Maßnahmen verzichten, sondern verstößt ständig gegen das von ihr mit geschaffene europäische Beihilferecht.

Beispiele sind VW Sachsen und weitere Großbetriebe in den jungen Ländern und vor allem das Flächenerwerbsprogramm nach dem EALG mit seiner offensichtlich rechtswidrigen Begünstigung nicht-berechtigter LPG-Nachfolger und der Ex-Agrarfunktionäre als „Neueinrichter“ oder „Ausgründer“.

Die „sieben Kardinal-Sünden“ sollten die Verantwortlichen nachdenklich machen. Hinzu kommen Fehler in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, über die die Fachinstitute deutliche Worte gesagt haben. Besser als reden wäre es, die Versäumnisse und Fehlleistungen in ihrer ganzen Dimension zu erkennen und durch rasches Handeln zu lösen. Wer weiß, ob sich sonst nicht an manchem der Verantwortlichen das geflügelt gewordene Gorbatschow-Wort erneut erfüllen wird: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Unzählige Bürger, ja Deutschland als Ganzes, sind heute schon gestraft genug. Und mitgeschlagen durch die Blindheit der Verantwortlichen, die große Chancen für das Land vorsätzlich oder fahrlässig vertan haben.

 

Manfred Graf von Schwerin ist Bundesvorsitzender der Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum (ARE). Er schrieb zuletzt in JF 45/01.


 
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