© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   08/02 15. Februar 2002


Das Schweigen bricht
Warum plötzlich über die deutschen Opfer des Krieges gesprochen wird
Baal Müller

In letzter Zeit mehren sich die Anzeichen, daß auch das millionenfache Leid deutscher Kriegsopfer und Heimatvertriebener zum Gegenstand öffentlichen Gedenkens werden könnte. Die Verfilmung des Bestsellers „So weit die Füße tragen“ von Joseph Martin Bauer durch die jungen Filmemacher Jimmy Gerum und Bastian Clevé weist in diese Richtung, und Günter Grass’ neue Novelle „Im Krebsgang“, die die Versenkung des Flüchtlingsschiffes ‚Wilhelm Gustloff‘ durch ein sowjetisches U-Boot behandelt, sorgt erst recht für Aufregung in den Feuilletons. Grass, als Vorzeigeautor der politischen Klasse über Kritik erhaben, hat dennoch nicht versäumt, durch Einfügung eines „Neonazis“ in die Rahmenhandlung darauf hinzuweisen, daß er durchaus keinen Beifall von der falschen Seite wünscht.

Es ist jedoch weder solche eigentlich überflüssige, politisch korrekte Rückversicherung noch sein Image, das die öffentliche Beurteilung des Buches so wohlwollend ausfallen läßt, wie man es derzeit etwa aufgrund der durch Sparmaßnahmen und verbale Schlußstriche „glänzenden“ Vertriebenenpolitik der Bundesregierung kaum erwartet hätte; vielmehr scheint sich eine allmähliche Neuorientierung im Umgang mit den deutschen Opfern von Krieg und Vertreibung anzukündigen, die die bisherige, nicht historisch, sondern idelogisch bedingte, Schwarzweiß-Malerei hinter sich läßt. Zwar gibt es Mahnungen, etwa von Ralph Giordano, man dürfe, wenn man von den Vertriebenen spreche, nicht die Kriegsschuld ausblenden, über Holocaust und deutsche Kriegsverbrechen nicht schweigen, doch sie gehen angesichts der Omnipräsenz dieser Themen offenkundig ins Leere und haben im übrigen mit dem individuellen Leid der Vertriebenen überhaupt nichts zu tun.

Da eine Erinnerungspolitik, die auch die deutschen Opfer des Krieges nicht vergißt, aufgrund der öffentlichen Sprachregelungen vom „Volk der Täter“ bislang nicht erwünscht ist, stellt sich die Frage, woher das starke Interesse an diesem ausgeblendeten Stück Nachkriegsgeschichte so plötzlich kommt.

Zweierlei Erklärungen sind denkbar: Man kann, ähnlich wie bei den NS-Verbrechen, psychologische Erklärungsmuster wie Schuld, Verdrängung und Traumatisierung bemühen, so daß es sich bei der aktuellen Beschäftigung mit den deutschen Kriegsopfern um eine „Wiederkehr“ des Verdrängten aus dem kollektiven Unterbewußtsein handelt, oder man kann dieses Phänomen medientheoretisch als Übertragung des Opferdiskurses auf eine neue Opfergruppe ansehen. Beide Erklärungsversuche sind jedoch für sich genommen unzureichend.

Gegen den trivialisierten sozialpsychologischen Freudianismus - allerdings im Zusammenhang mit dem Holocaust-Diskurs - hat der österreichische Philosoph Rudolf Burger vergangenes Jahr in seinem in der Zeitschrift Europäische Rundschau publizierten Essay über „Die Irrtümer der Gedenkpolitik“ gewichtige Einwände erhoben: Seiner Auffassung nach ist die Rede etwa von einem kollektiven Unbewußten und der Traumatisierung ganzer Völker oder Religionsgemeinschaften äußerst problematisch, da sich psychologische Instanzen wie „Ich“ und „Es“ in Kollektiven nicht ohne weiteres ausmachen lassen; dort gibt es nur ein „Wir“, das sich nicht von selbst in bewußte und unbewußte Regionen aufteilt - es sei denn, man wollte, wie dies manche Volkspädagogen zu tun scheinen, etwa den Medien, den Parteien und demokratischen Institutionen pauschal die Klarheit und Helle eines allgemeinen Bewußtseins zusprechen und ihnen die rationale Herrschaft über die dumpf vor sich hin brütenden unbewußten Volksmassen überantworten. Eine solche Auffassung hat jedoch nicht nur nichts mit dem modernen, demokratischen Prinzip der Volkssouveränität zu tun, sondern sie steht im Gegenteil, wie Burger deutlich gemacht hat, geradezu in jenen organologischen, „biologistischen“ Traditionen, die von den linken Therapeuten des kollektiven Unbewußten - eigentlich einer Neuauflage der romantischen „Volksseele“ - gewöhnlich abgelehnt werden.

Zwar spricht der bloße Hinweis auf die geistesgeschichtliche Herkunft eines Gedankens noch nicht gegen dessen Geltung, aber wer sich einer psychologisierenden „völkischen“ Terminologie bedient, sollte deren Anwendbarkeit auf sein modernes Gesellschaftskonzept zumindest bedenken. Die avancierteren Theoretiker des kollektiven Gedächtnisses vermeiden freilich die Bezugnahme auf ein gemeinschaftliches Unbewußtes und sprechen lieber von den „sozialen Archiven“ einer Gesellschaft, die etwa in deren mehr oder weniger kanonischen Texten, in „mythischen“ Erzählungen und Bildern, in Sitten und Gebräuchen bestehen. Durch zentralisierte Rituale zum Beispiel des Gedenkens glaubt man, eine kollektive Erinnerung stiften zu können, die sich weniger aus der Bewußtwerdung eines verdrängten Unbewußten als vielmehr im Hinblick auf ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Nutzen erklärt: Nicht die Erinnerung an ein Ereignis sucht man zu bewahren, denn diese liegt nur im Gedächtnis des Einzelnen und nicht im sozialen Archiv als solchen, sondern künftige Handlungen oder Unterlassungen möchte man durch ensprechende Anleitung bewirken.

Die Ritualisierung des öffentlichen Diskurses kann allerdings - und wird mit der Zeit auch - das Gegenteil herbeiführen: Desinteresse an den immer wieder verhandelten Gegenständen oder gar die Lust an der politisch inkorrekten Provokation, weshalb das Vergessen - nach Burger - allemal gesünder ist als die zwanghafte rituelle Wiederholung.

Die im Gegensatz zum Holocaust-Gedenken politisch nicht gesteuerte Renaissance der Vertriebenenproblematik zeigt, daß Rituale für sich genommen nicht ausreichen. Es muß zwar kein kollektives Unterbewußtsein, wohl aber ein vitales Interesse des Einzelnen an der Geschichte seines Gemeinwesens vorhanden sein, damit es so etwas wie ein gemeinschaftliches Gedächtnis gibt. Rituale können solches nicht hervorbringen, aber sie stiften durch ihren Vollzug eine gemeinsame Identität.

Die bloße Übertragung des Erinnerungsdiskurses auf eine andere Opfergruppe, nämlich die Vertriebenen, könnte nicht zum wiedererwachenden Interesse an deren Schicksal führen, wenn ihr nicht das Bewußtsein einer bisherigen Vernachlässigung zugrunde liegt. Es wird Zeit, daß die deutschen Heimatvertriebenen die notwendige öffentliche Beachtung finden, die man auch anderen Opfern der nationalen und internationalen Sozialismen des zwanzigsten Jahrhunderts zukommen läßt; gleichwohl ist jedoch eine wiederum nur negative Fixierung auf die deutsche Vergangenheit - jetzt nicht mehr aus der Täter-, sondern aus der Opferperspektive - abzulehnen. Notwendig ist ein neues historisches Bewußtsein.


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