© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/02 22. Februar 2002


Geschichte
Günter Grass und die neue deutsche Mitte
Dieter Stein

Über 400.000 Exemplare hat die erst Anfang Februar erschienene Novelle „Im Krebsgang“ von Günter Grass bereits erreicht. Einse sensationelle Zahl. Grass ist es gelungen, mit seiner Geschichte, in deren Mittelpunkt der tragische Untergang der „Wilhelm Gustloff“ 1945 steht, ein Thema zu plazieren. Die Ufa hat sich bereits dafür entschieden, die größte Schiffskatastrophe der Geschichte auf die Leinwand zu bannen.

Manche Kritiker meinen, Grass sei ein Abstauber. Ein Abstauber ist jemand, der beim Fußballspiel gemütlich im gegnerischen Strafraum wartet, bis ihm der Ball vor die Füße rollt, um ihn mühelos im Tor zu versenken - es sei denn, er steht im Abseits! Grass scheint geahnt zu haben, daß das Thema in der Luft liegt. Geholfen hat ihm, daß die Feuilletons der maßgeblichen deutschen Zeitungen ihm zu Füßen liegen und seine Produktionen begierig aufnehmen. Lediglich sein Buch „Ein weites Feld“ wurde von Marcel Reich-Ranicki 1995 auf dem Spiegel-Titel sinnbildlich zerrissen - nun aber hat der Literaturpapst den „Krebsgang“ gnädig begrüßt.

Undank ist der Welten Lohn: Tonnenweise stapelt sich seit Jahrzehnten Literatur mit den Erinnerungen über die Hölle der Vertreibung in den Kellern kleiner Verlage, deren Autoren sich redlich mühten, die Schrecken dem Vergessen zu entreißen - ohne daß es die Öffentlichkeit wahrnahm. Da ackert der Schriftsteller Walter Kempowski seit Jahrzehnten an seinem gigantischen „Echolot“-Projekt, in dem er mit Hilfe von zwölf Mitarbeitern Tagebücher, Fotoalben und Briefe sammelt, um ein kollektives Tagebuch der Deutschen zu schreiben - und es wird kaum gewürdigt.

Der große Rummel, der um das kleine Buch von Günter Grass gemacht wird, empört Autoren wie Walter Kempowski zu Recht. Man kann deshalb nur hoffen, daß der „Krebsgang“ ein Interesse an der Thematik weckt und nun auch tiefgründigere Werke die Aufmerksamkeit finden, die sie verdienen.

Daß Grass offene Türen einrennt, hat Gründe: Deutschlands Schwerpunkt hat sich seit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung 1990 geographisch und geistig verlagert. Deutschland hat in den letzten Jahren schrittweise seine Sonderrolle verloren. Seit 1999 residiert die Bundesregierung in der Hauptstadt Berlin, unter Bundeskanzler Schröder wurden militärische Auslandseinsätze im Kosovo, in Mazedonien und Afghanistan durchgeführt. Deutschland tritt zusehends aus dem Schatten der Nachkriegszeit heraus und ist auf der Suche nach seiner Mitte. Dieser Prozeß geht langsam voran. Im Zuge dessen sehen wir uns aber wieder auf unsere eigenen Traditionen und Geschichte zurückgeworfen.

Ein Indiz dieser „Normalisierung“ ist auch, daß ernsthaft - auf Vorschlag des Brandenburgischen Arbeits- und Sozialministers Alwin Ziel (SPD) - diskutiert wird, nach einer Fusion Brandenburgs mit Berlin ein neues „Preußen“ zu schaffen. Auch diese „reizende romantische Idee“ (Wolf Jobst Siedler) zeigt die neue Unbefangenheit und Gelassenheit der Deutschen.


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