© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/02 22. Februar 2002

 
„Eine Armee ist nie ohne Wurzeln“
Ulrich de Maizière, Generalinspekteur a.D. und Mitbegründer der Bundeswehr, über die deutsche Armee im 20. Jahrhundert
Moritz Schwarz

Herr de Maizière, am 24. Februar feiern Sie Ihren 90. Geburtstag. Sie sind neben Johann Adolf Graf von Kielmansegg der bedeutendste noch lebende sogenannte „Vater der Bundeswehr“. Bereits 1930 sind Sie in die deutsche Armee, damals die Reichswehr, eingetreten. War Ihre Familie soldatisch „vorbelastet“?

de Maizière: Nein, meine Vorfahren waren Ärzte oder Juristen. Ich bin in einem konservativen Beamtenhaushalt aufgewachsen. Mein Vater ist im Ersten Weltkrieg als Reserveoffizier gefallen, also mußte meine Mutter meine drei Geschwister und mich alleine erziehen.

Als Abkömmling einer Hugenotten-Familie sind Sie durch und durch Preuße.

de Maizière: Die Familie stammt aus dem Raum Metz. Als König Ludwig XIV 1685 das Edikt von Nantes widerrief, hat sie Frankreich verlassen und ist dem Aufruf des großen Kurfürsten gefolgt, in die Mark Brandenburg zu kommen. Die de Maizières waren sich, wie viele Hugenotten, dieser Herkunft immer bewußt. Bis 1914 gab es in Berlin ein französisches Gymnasium und im französischen Dom am Gendarmenmarkt wurden Gottesdienste in französischer Sprache gehalten. Zu dieser hugenottischen Identität gehört aber auch der Dank gegenüber der Mark Brandenburg, die unsere Vorfahren einst aufgenommen hat.

Was ist preußisch an Ihnen?

de Maizière: Ich habe Pflicht und Verantwortung immer als wesentliche Elemente meines Lebens betrachtet. Wir sind noch zu einem Gefühl der Pflicht gegenüber dem Staat und dem Gemeinwohl erzogen worden. Meiner Autobiographie habe ich deshalb auch den Titel „In der Pflicht“ gegeben. Ich selbst liebäugelte als junger Mensch damit, Musiker zu werden. Meine Lehrer am Konservatorium ermutigten mich dazu. Schließlich bestimmte aber doch die Tradition der Familie als Staatsdiener meine Entscheidung. Warum ich dann allerdings Soldat und nicht Beamter geworden bin, weiß ich selbst nicht mehr so genau.

Es war nicht Berufung?

de Maizière: Nicht unbedingt. Ich sah als Soldat eine Möglichkeit, dem Staat zu dienen. Ich hatte im Grunde genommen wenig konkrete Vorstellungen vom Soldatenberuf. Ich hätte auch Jura studieren können.

1930 wurden Sie dann als einer von vieren aus sechzig Bewerbern in das Infanterieregiment No. 5 in Stettin aufgenommen.

de Maizière: Dabei war ich Brillenträger, was eigentlich schon ein Ausschlußgrund war. Die erste Zeit in der Armee war hart für mich, da ich zwar bescheiden, aber behütet und vaterlos aufgewachsen bin. Anfangs befürchtete ich, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Aber auf der Offiziersschule änderte sich das.

Sie schlossen als Jahrgangsbester ab.

de Maizière: Was mich selbst überraschte.

Welche Beziehung entwickelten Sie dann im Laufe der Zeit gegenüber der Armee?

de Maizière: Der Gedanke, dem Staat zu dienen, blieb die mein Bewußtsein prägende Größe. Was mich aber ebenfalls faszinierte, war zum einen, Menschen zu führen, zum anderen, Organisationsvermögen zu entwickeln, was ja eine der wichtigsten Fähigkeiten ist, die der Offizier braucht.

Die Reichswehr verstand sich damals als Treuhänder der Nation.

de Maizière: Es ist heute beinahe vergessen, daß damals das deutsche Volk - bis hinab in die Arbeiterschaft - in nationalen Kategorien dachte. Der Versailler Vertrag etwa wurde von allen Teilen des Volkes gleichermaßen als ein aufgezwungener „Schandvertrag“ empfunden. Die Weimarer Republik hatte es schwer. Inflation, Reperation und Arbeitslosigkeit erschwerten es den Bürgern, sich mit der Republik zu identifizieren. Man muß sich vergegenwärtigen, daß 1918 eine tausendjährige monarchische Geschichte für Deutschland zu Ende ging. Ich halte den Umbruch 1918, von der Monarchie zur Republik, für größer, als den Umbruch 1945, vom Dritten Reich zur späteren Bundesrepublik. General Hans von Seeckt hatte die Reichswehr für apolitisch erklärt. Von einem durch Jahrhunderte auf einen Monarchen ausgerichteten Offizierskorps konnte man kaum erwarten, von heute auf morgen überzeugte Republikaner zu werden. Seeckt hat die Reichswehr zum Dienst für das „Reich“ verpflichtet.

Also war die Nation das Mittel, um die Armee von der Monarchie in die Republik zu führen?

de Maizière: So könnte man es sehen. Daß die apolitische Haltung und die Treue zur Reichsverfassung von der Reichswehr ernstgenommen wurde und nicht nur Tarnung war, beweist zum Beispiel die Anweisung, die ich als junger Offizier für ein Traditionstreffen in Berlin erhielt. Sollte einer der alten Herren ein „Hoch“ auf den Kaiser ausbringen, so sollte ich den Raum verlassen.

Welche Beziehung haben Sie selbst zur Republik gehabt?

de Maizière: 1918 war ich sechs Jahre alt, ich bin also in der Republik groß geworden. Meine Mutter ist in der Monarchie aufgewachsen. Als aber als mein politisches Denken etwa um 1925 erwachte, war Kaiser Wilhelm II für mich schon so weit weg, wie König Friedrich Wilhelm IV. Ich hatte keinerlei persönliche Bindung mehr an die Monarchie. Ich war konservativ erzogen und hätte sicherlich deutschnational gewählt, hätte ich wählen dürfen. Soldaten hatten damals kein Wahlrecht. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich 1947, also mit 35 Jahren, gewählt. Im Grunde genommen aber war mir Politik damals nicht wichtig.

Wie haben Sie dann den politischen Umschwung von 1933 erlebt?

de Maizière: Politisch haben wir an diesen Vorgängen eher als Beobachter Anteil genommen. Die nationale Komponente des Nationalsozialismus haben wir aber natürlich als positiv empfunden. Leider folgten bald Entwicklungen, die erste Zweifel in mir weckten, etwa die Gleichschaltung der Presse oder die Maßnahmen gegen die Juden. An der Offiziersschule hatten wir in unserem Jahrgang vier Kameraden mit jüdischen Vorfahren, die schließlich alle die Armee verlassen mußten. Man lebte in den dreißiger Jahren in einem Wechselbad der Gefühle, einerseits die Erfolge - Wiederherstellung der Souveränität, Rückgang der Arbeitslosigkeit, die Olympiade 1936 -, andererseits eine Folge verunsichernder Rechtsbrüche, wie die Rassengesetze 1935 oder der „Röhm-Putsch“ 1934. Mir hat letzterer erstmals klargemacht, wie ernst es die Nazis meinten. Daß das deutsche Bürgertum und seine Eliten - wozu auch die Armee gehörte - solch einen Rechtsbruch hingenommen haben, ist in meinen Augen der erste schwere Sündenfall unter diesem neuen Regime gewesen.

Graf von Kielmansegg äußerte gegenüber der JUNGEN FREIHEIT, man sei damals nur froh gewesen, daß damit Röhm und die SA ausgeschaltet waren.

de Maizière: Das ist richtig, ändert aber nichts an dem eben Gesagten. Im übrigen lebte man in der Wehrmacht weitgehend neben der NSDAP. Die Partei hatte immerhin bis zum Attentat auf Adolf Hitler durch Offiziere der Wehrmacht am 20. Juli 1944 kein Eingriffsrecht in die Armee - nicht einmal die Gestapo.

Das heißt, die Darstellung, die Soldaten seien Hitlers erste Helfershelfer gewesen, ist historisch nicht zutreffend?

de Maizière: Nicht in dieser apodiktischen Form. Es gab sogar Leute, die in die Wehrmacht emigrierten, weil sie da vor dem Zugriff der Partei sicher waren.

Man hielt gegen die Nationalsozialisten zusammen?

de Maizière: Mein Bataillonskommandeur, Paul von Hase, zum Beispiel war zwar ein Deutschnationaler, aber beileibe kein Nazi. Er ist am 20. Juli 1944 dann auch einer der ersten gewesen, die der Rache Hitlers zum Opfer gefallen sind. Mancher alte Soldat hatte da mehr Weitblick als wir Jungen. Ich erinnere mich, als wir am 3. September 1939 im Radio von der Kriegserklärung Frankreichs und Englands hörten, sagte mein Oberst im Beisein vieler umstehender Soldaten: „Damit ist der Krieg verloren“. - Übrigens hat keiner der Kameraden ihn wegen dieser Bemerkung angezeigt.

Das heißt, man konnte sich blind auf die soldatische Gemeinschaftstreue verlassen?

de Maizière: Weitgehend ja, zumindest bis zum 20. Juli 1944.

In der Bundeswehr herrscht dagegen heute eine Atmosphäre des Verdachts gegen jeden, der sich kritisch über den Zeitgeist äußert.

de Maizière: Ich glaube, daß Sie das nicht richtig sehen. Das Konzept des Staatsbürgers in Uniform läßt unterschiedliche Auffassungen im Offizierskorps zu. Die Soldaten der Bundeswehr dürfen ja auch einer politischen Partei angehören. Trotz aller Unterschiedlichkeit der Meinungen in den dienstlichen Betätigungsfeldern eint das Offizierskorps der treue Dienst gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, die Bindung an das Grundgesetz und die in den Wehrgesetzen definierten soldatischen Pflichten. Insofern kann man durchaus von einem Gemeinschaftsgefühl unter den Offizieren der Bundeswehr sprechen.

Es war Graf Kielmansegg, der Sie ins Amt Blank geholt hat.

de Maizière: Weihnachten 1950 erhielt ich - ebenso wie später Graf Baudissin - einen Brief von ihm, er brauche mich für den Aufbau neuer deutscher Streitkräfte. Die Vorbereitungen dafür wurden damals in Amt Blank, dem Vorläufer des Bundesverteidigungministeriums, getroffen.

Sie wollten wieder Soldat für Deutschland werden?

de Maizière: Über meinen zweiten Eintritt in die Armee habe ich - anders als beim ersten Mal - gründlich nachgedacht: „Darf man überhaupt wieder Soldat werden?“ Und wenn ja: „Zu welchem Zweck?“ Da half mir Luther, der gesagt hat, der Christ stünde im Spannungsfeld von Feindes- und Nächstenliebe, er habe für seine Person Gewalt und Unrecht zu erdulden, sei aber verpflichtet, seinen Nächsten davor zu schützen. Die Erfüllung dreier politischer Kriterien machten es mir dann möglich, diese ethische Einsicht auch in die Praxis umzusetzen: Erstens, daß die neuen Streitkräfte in einen internationalen Rahmen eingebettet waren, zweitens, daß sie nur der Verteidigung dienen sollten, und drittens, daß sie als Streitkräfte einer parlamentarischen Demokratie unter dem Primat der Politik aufgestellt wurden.

Das heißt, die Bundeswehr war keine Fortsetzung der deutschen Armeen der Geschichte?

de Maizière: Nein, sie war eine Neuschöpfung. Sie ist eine Armee in der Demokratie, also ein Kind der Bundesrepublik Deutschland.

Sie ist also ein Instrument der Demokratie, keine Nationalarmee. Sie dient dem Staat, nicht der Nation?

de Maizière: Ich kann dieser Gegenüberstellung von Staat und Nation nicht folgen. Die Bundeswehr ist eine Neuschöpfung, aber sie steht auch in der Tradition all dessen, was in der Geschichte der deutschen Armeen traditionswürdig ist. Wie etwa die preußischen Militärreformen von 1813, der 20. Juli 1944 und die überzeitlichen soldatischen Tugenden, die im Soldatengesetz als Pflichten definiert sind.

Die Bundeswehr nimmt also die deutsche soldatische Vergangenheit nicht als Ganzes mit ihren Höhen und Tiefen, als einen Schicksalsstrom an, sondern bedient sich in ihr wie in einem Kaufmannsladen?

de Maizière: Das sehen Sie nicht richtig, Geschichte ist nicht gleich Tradition. Tradition ist Auswahl dessen, was zur Erfüllung der Aufgaben in der Gegenwart hilfreich ist. Die Bundeswehr war im Kalten Krieg der deutsche Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung Europas, die auch die Verteidigung der Freiheit des nicht unter kommunistischer Herrschaft lebenden Teils der deutschen Nation einschloß.

Wie bewerten Sie den Traditionsstreit, der schon so lange in der Bundeswehr schwelt?

de Maizière: Eine Armee ist nie ohne Wurzeln. Ich wiederhole: Tradition ist Auswahl aus der Geschichte, dessen, was für die Erfüllung des heutigen Auftrages hilfreich ist. Das ist unstrittig. Bei der Bundeswehr handelt es sich um nationale Streitkräfte, die zwar nicht im nationalen Alleingang, aber immer in Übereinstimmung mit den Interessen der Nation eingesetzt werden. Schließlich gelobt der Bundeswehrsoldat: „das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“.

Wenn ein Bundeswehrsoldat heute die Fotografie seines Vaters, Großvaters oder Urgroßvaters in Uniform betrachtet, fühlt er sich dann fremd oder nahe?

de Maizière: Er sollte fühlen, daß sein Vorfahre ein deutscher Soldat gewesen ist wie er selbst, aber eben in einer anderen Zeit.

Die Bundeswehr gilt den anderen Streitkräften der Welt gemeinhin als eher unpatriotische Armee.

de Maizière: Auch dieser Formulierung kann ich so nicht zustimmen. Richtig ist: Eine Wehrpflicht-Armee kann nicht besser und nicht schlechter sein als das Volk, aus dem sie stammt. Und das deutsche Volk hat - verständlicherweise - Schwierigkeiten mit seiner jüngsten Geschichte, mit der jahrzehntelangen Teilung und dadurch mit seiner Selbstidentifikation.

Das Problem der Bundeswehr ist also eigentlich ein Problem der Bundesrepublik?

de Maizière: Wir alle sollten wieder lernen, uns als Deutsche zu fühlen und zu identifizieren. Das schließt das Bekenntnis zu Höhen und Tiefen, zu Versagen und Erfolgen ein. Nation definiert sich nicht nach geographischen Grenzen. Sie ist die Gemeinschaft von Menschen gleicher Sprache, Geschichte und Kultur, die bereit sind, sich als Nation zu fühlen.

 

Ulrich de Maizière General a.D. geboren 1912 in Stade. Nach dem Eintritt in die Reichswehr dient er während des Zweiten Weltkrieges in verschiedenen Divisionsstäben und im Oberkommando des Heeres. 1945 geht der Oberstleutnant i.G. in britische Gefangenschaft. 1947 beginnt er eine Ausbildung als Buch- und Musikalienhändler. Im Januar 1952 wird er ins Amt Blank berufen und dient ab 1955 als Oberst in der neu gegründeten Bundeswehr. 1956 wird er zum

General befördert. 1960 bis 1962 ist er Kommandeur der Bundeswehrschule für Innere Führung, 1962 bis 1964 der Führungsakademie der Bundeswehr. Danach wird er Generalinspekteur des Heeres, ab 1966 Generalinspekteur der Bundeswehr. 1972 nimmt er seinen Abschied, bleibt aber beratend für das Bundesministerium der Verteidigung tätig. 1997 erschien seine Autobiographie „In der Pflicht“ (erschienen bei Mittler & Sohn).

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