© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/02 22. Februar 2002

 
Die Alternative zum „Lebensraumplan“
Matthias Schröder über die Wlassow-Armee und die Ostpolitik der vertanen Chancen
Jürgen Neumann

Der junge Münsteraner Historiker Matthias Schröder hat sich ein Modethema zum Gegenstand seiner Doktorarbeit gewählt: den Anteil von Intellektuellen an der nationalsozialistischen „Lebensraum“-Politik in Osteuropa. Nach den publizistischen Erfolgen, die der gerade mit dem obligatorischen „Heinrich-Mann-Preis“ prämierte Berliner Journalist Götz Aly mit einschlägigen Arbeiten einheimsen konnte, scheint diese Verzahnung von Wissenschaft und Politik Zeithistoriker anzuziehen wie das Licht die Motten.

Im Vergleich mit Aly, der als eine Art historiographischer Ernst Haeckel die zeitgeschichtlichen „Welträtsel“ mittels knalliger Thesen so publikumswirksam löst, daß die weitgehend vom Geschichtsbewußtsein befreiten, gebildeten Stände Restdeutschlands enthemmt applaudieren, tut sich Schröder aber sichtlich schwer damit, ähnlich simplifizierend zu verfahren. Das ehrt ihn. Trotzdem drängt sich der Verdacht auf, daß er Aly nur zu gern nachgeeifert hätte. Allein das von ihm ausgesuchte Material war offenbar derart disparat, daß es sich zum Leidwesen des Autors nicht ins Stahlkorsett einer politisch korrekten „These“ zwängen ließ. Ein wenig erinnert Schröder deshalb an jenen legendären Generalstabsoffizier, der alles so minutiös berechnete, und der doch wahnsinnig wurde, als von ihm nicht koordinierte Eisenbahnpläne den Aufmarsch im Desaster enden ließen.

Auch in Schröders Konzeption sind solche „Entgleisungen“ vorprogrammiert. Das beginnt schon damit, daß der Leser sich fragen muß, womit der Autor sich beschäftigen, was er beweisen möchte. Benötigt er doch fast einhundert mit der Karriere zweier baltischer SD-Funktionäre gefüllte Seiten, um endlich zum Kern seiner Untersuchung vorzustoßen Denn eigentlich scheint sein Opus von Andrej Wlassow handeln zu wollen, jenem General der Roten Armee, der sich nach seiner Gefangennahme im Wolchow-Kessel, im Frühjahr 1942, der Wehrmacht zur Verfügung stellte, um an der Seite der Deutschen seine Heimat von Stalin und dem mörderischen bolschewistischen Regime zu befreien.

Zur Figur dieses von allen seinen deutschen Gesprächspartnern als „charismatisch“ empfundenen Generals verspricht Schröder neue Einsichten zu liefern. Ist Wlassow doch für ihn durch eine vom Antikommunismus geprägte Rezeptionsgeschichte der letzten fünfzig Jahre bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden. Schließlich hätten am „Denkmal“ des von Stalin gehängten „Verräters“ viele gebastelt, denen er während des „Kalten Krieges“ ideologisch ins Konzept gepaßt habe. Doch die von Schröder kritisierte Quintessenz dieser unterschiedlich politisch motivierten Instrumentalisierungen des Stalin-Gegners, die darin bestand, daß Wlassow nicht nur in „verlorenen Siegen“ nachtrauernden Memoiren von Wehrmachtgeneralen die versäumten Chancen deutscher Ostpolitik personifizierte, muß er selbst als Resümee seiner mit so großen Aplomb angekündigten Neubewertung anbieten.

War dieser Offizier und „Kulakensohn“, ein fast zwei Meter großer Hüne aus dem moskowitischen Kernland von Nishni Nowgorod, doch nun einmal der ideale „propagandistische Gegenpol“ zu Stalin. Und ihn unterstützten jene Kräfte in der Wehrmacht, die, wie Oberst Stauffenberg es formulierte, im Oberkommando des Heeres gegen die imperialistische „Untermenschenpolitik“ Hitlers und Himmlers einem „Verein zum Kampf gegen lebensgefährlichen Blödsinn“ gegründet hatten. Nur haben sich die Wlassow-Sympathisanten nicht gegen die Fundamentalisten der NS-Rassen- und Lebensraum-Ideologie und deren Vollstrecker wie Gauleiter Erich Koch, Hitlers Reichskommissar für die Ukraine, durchgesetzt. Insoweit kann Schröder, der diese internen Machtkämpfe um die „Wlassow-Bewegung“, wie sie zwischen SS, Auswärtigem Amt, Rosenbergs Ostministerium und der Heeresführung tobten, nachzeichnet, nur bestätigen, was lange bekannt ist: Die NS-Ostpolitik sei so „zerfahren“ gewesen, daß sie keinesfalls unter einen gemeinsamen Sammelbegriff gefaßt werden könne.

Relativ neu an Schröders Darstellung ist nur, daß er auch im Machtbereich des „Rasse“-Fundamentalisten Himmler, im SS-Hauptamt, Exponenten einer Pro-Wlassow-Fraktion nachweisen kann, deren Aktivitäten die „Zerfahrenheit“ der Politik des angeblich so „totalitären“ NS-Regimes aus einer bisher weniger beachteten Perspektive illustrieren. Fast die Hälfte der Arbeit widmet Schröder daher den beiden baltischen SS-Offizieren Erhard Kroeger und Friedrich Buchard, die als Praktiker der „Endlösung“, während ihrer Abkommandierungen zu den „Einsatzgruppen“ an der Ostfront, bis 1943 eher Himmlers Vernichtungspolitik umsetzten, bevor sie als „vernünftige Nazis“ dafür eintraten, mit Wlassow als gleichberechtigtem Koalitionspartner Stalins Diktatur zu beseitigen.

Bevor Schröder diese beiden Stränge seiner Arbeit, Wlassow und die intellektuellen Ost-Planer, zusammenführt, muß der Leser sich durch einen allzudichten Detaildschungel kämpfen, in dem sich der Lebensweg Kroegers und Buchards in vielen Richtungen verliert. Vielleicht hätte es sich empfohlen, ihre politische Sozialisation im Milieu der deutschbaltischen Minderheit Lettlands zu straffen und die Biographien gezielter auf ihr SD-Engagement hinzuführen. In der vorliegenden Form mutet soviel Liebe für das lebensgeschichtliche Detail mitunter arg selbstzweckhaft an. Der baltische Hintergrund wie die wissenschaftliche Zuarbeit, die vor allem Buchard seit 1936 leistete, wäre fast schon eine Dissertation für sich wert gewesen, in der Schröder sich auch stärker von inzwischen eingeschliffenen, von Ulrich Herbert, Jens Banach oder Christoph Wildt gebrauchten Stereotypen über „Heydrichs Elite“ hätte distanzieren können, von denen er hier allzu abhängig ist.

Dann hätte er sich auch der Komplexität deutsch-baltischer Minderheitenpolitik so gründlich widmen können, daß er im „Publikationsverzeichnis Erhard Kroeger“ und dessen Dissertation über das „lettische Fremdenrecht“ nicht vergessen hätte. Und zudem wäre ihm dann etwas Raum für die Reaktionen auf diese Arbeit geblieben, etwa in der Rigaschen Zeitschrift für Rechtswissenschaft. Jürgen Neumann

Matthias Schröder: Deutschbaltische SS-Führer und Andrej Vlasov 1942-1945. „Rußland kann nur von Russen besiegt werden“: Erhard Kroeger, Friedrich Buchardt und die „Russische Befreiungsarmee“, Schöningh, Paderborn, 256 Seiten, Abbildungen, 30, 60 Euro.


 
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