© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/02 01. März 2002


Zuwanderung nach Recht und Gesetz
von Björn Schumacher

Immer häufiger wird Migration am Leitfaden des Dualismus „Menschen, die uns nutzen / Menschen, die uns ausnutzen“ thematisiert. Der duale Ansatz ist jedoch höchst problematisch. Seine Worte suggerieren ein Menschenbild, das sich mit christlich-naturrechtlichen und aufgeklärt-vernunftrechtlichen Gesellschaftsentwürfen kaum verträgt. Auch inhaltlich bringt er nur begrenzten Ertrag, weil nicht selten mehrere Migrationsmotive zusammenkommen und obendrein alle Arten von Einwanderung der Kontrolle und Begrenzung bedürfen. Das deutsche Volk als Souverän wünscht mehrheitlich keinen Zuwachs an Nicht-EU-Ausländern. Leitgedanke der Immigrationspolitik muß die Nullzuwanderung per Saldo sein. Politiker, die sich damit nicht abfinden wollen (Wirtschaftslobbyisten oder nationalskeptische ldealisten), sollten wesentliche Elemente direkter Demokratie aufgreifen und ein in allen wichtigen Aspekten informiertes Volk darüber abstimmen lassen. Geht es doch um ein Herzstück nationalen Selbstverständnisses: die Frage nach dem Umfang ethnischer und kultureller Neustrukturierung auf deutschem Boden. Die folgende Skizze beleuchtet zentrale Probleme der Notlagen- bzw. Elendsmigration nach Deutschland.

Kein überzeugter Vertreter der Menschenrechte, kein Humanist im eigentlichen Sinne des Wortes wird bedauernswerte Menschen abweisen wollen, die hierzulande Zuflucht in einer nachweislich schlimmen Notlage suchen: Dazu gehören Krieg, Bürgerkrieg, Hungersnöte, Naturkatastrophen und ein aufklärerischer Begriff der politischen Verfolgung, der barbarische Auswüchse nichtstaatlicher sowie geschlechtsspezifischer Diskriminierung erfaßt (Beispiel: Steinigung von Ehebrecherinnen). Hierfür bedarf es aber keiner subjektiven Rechte mit Verfassungsrang. So könnte an die Stelle des individuellen Grundrechts auf Asyl nach Artikel 16 a GG, eine institutionelle Garantie mit konkreter Ausgestaltung im einfachen Gesetzesrecht treten. Sie würde zwar die Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) im Asylverfahren nicht beseitigen, weil und soweit sich subjektive Rechte im Sinne dieser Norm auch aus institutionellen Garantien herleiten lassen. Gleichwohl wird eine institutionelle Garantie zahlreiche Asylverfahren durch Verkürzungen des Zugs durch die Instanzen enorm beschleunigen: zum einen durch den regelmäßigen Wegfall von Verfassungsbeschwerden und zum anderen durch wachsende rechtliche Spielräume bei der Versagung von Berufungsmöglichkeiten. Außerdem wäre eine flexible Begrenzung der Asylbewerberzahl mit einer institutionellen Garantie leichter zu vereinbaren als mit dem Grundrecht des Art. 16 a GG. Die Begrenzung könnte die Gestalt einer „Asyl- und Notlagenquote“ unter dem Dach einer ebenfalls konkret bezifferten Höchstzuwanderung aus Nicht-EU-Staaten annehmen, die ihrerseits die mutmaßliche Zahl von Abwanderern desselben Zeitraums (beispielsweise ein Kalenderjahr) nicht überschreiten sollte. Bei unvorhergesehenen, schlichtweg unerträglichen Notsituationen brauchen wir freilich „Quotenverschiebungen“ (Beispiel: mehr Elendsflüchtlinge, dafür weniger Familiennachzug).

Auch auf supranationaler Ebene sollte ein gerechtes Quoten- bzw. Kontingentmodell zum Zuge kommen. Der gedankliche Spagat ist gar nicht groß. So beflügelt das nebulöse Rechtsgebilde einer „internationalen Staaten- und Völkergemeinschaft“ viele zeitgeistbeflissene oder gedankenlose Politiker. Warum also läßt sich die Bundesrepublik Deutschland - quasi „gemeinschaftswidrig“ - überproportional mit der Aufnahme von Elendsflüchtlingen belasten? Ein zweites Bosnien darf es auch insoweit nicht mehr geben.

Im Gegensatz zum rechtspolitischen Dauerbrenner Asylgrundrecht finden leidenschaftliche Diskussionen über das sogenannte „kleine Asyl“ kaum statt. Angesichts der Häufigkeit dieser Zufluchtsvariante muß das erstaunen. Trotzen hier die politisch korrekten Denk- und Diskursverbote eines nach wie vor nationalallergischen „Zeitgeistes“ dem Gestaltungswillen lebendiger Demokratie? Zusammengefaßt beschreibt der schillernde, unscharfe Begriff des „kleinen Asyls" gewisse Aufenthaltsrechte oder auch nur -duldungen, deren rechtsethische Legitimation zuweilen fragwürdig erscheint. Sie kommen unter anderem rechtskräftig abgelehnten Asylbewerbern zugute (einschließlich der zunächst Berechtigten mit späterem Widerruf des Asylstatus) sowie auch Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen nach Wegfall des Fluchtgrundes. Leitidee des „kleinen Asyls“ und seiner rechtsdogmatischen Ausprägung im Ausländergesetz (AuslG) ist die Humanität. So ermöglicht die Ermessensvorschrift des § 35 AuslG („Daueraufenthalt aus humanitären Gründen“) ein stabiles, sich durch „Zeitablauf plus Integration“ weiter verstärkendes Aufenthaltsrecht: Die dem Ausländer zunächst erteilte Aufenthaltsbefugnis kann unter bestimmten ökonomischen und soziokulturellen Voraussetzungen nach acht Jahren in eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis umgewandelt werden, die nach weiteren drei Jahren regelmäßig durch eine bedingungs- und auflagenfreie Aufenthaltsberechtigung zu ersetzen ist. Die §§ 45 ff AuslG ermöglichen und begrenzen die Ausweisung eines Ausländers, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt, während § 53 AuslG („Abschiebungshindernisse“) vor Abschiebungen in Staaten schützt, in denen die körperliche Integrität des Ausländers konkreten und gravierenden Gefahren ausgesetzt ist. Die Formel „acht Jahre Deutschland plus Integration“ beschreibt eine zwar notwendige, keinesfalls aber auch hinreichende Bedingung für die Gewährung weiterer, noch dazu verfestigter Aufenthaltsrechte. Diese müssen grundsätzlich in Mißbrauchsfällen versagt werden, also beispielsweise dann, wenn ein als Folge immer neuer Beweisangebote künstlich in die Länge gezogenes Asyl(streit)verfahren die Behauptungen des Antragstellers als offensichtlich haltlos entlarvt. Der im Koordinatensystem der philosophisch-politischen Aufklärung überragende Humanitätsaspekt wird auch weiterhin das Ermessen prägen. Partikularinteressen gewinnorientierter und daher nur begrenzt ausbildungswilliger Wirtschaftsunternehmen, die trotz einer strukturellen Arbeitslosigkeit von ca. fünf Millionen Menschen immer wieder horrenden Einwanderungsbedarf anmelden, werden einem kritischen Ermessensgebrauch in der Regel nicht standhalten. Was geschieht, wenn die nunmehr zu Arbeitsmigranten umfunktionierten Asylbewerber bei konjunkturellen Flauten wieder entlassen werden? Ubernehmen ihre ehemaligen, eo ipso eigennützigen Beschäftigungsunternehmer, in einem Anflug von Gemeinsinn die daraus resultierenden Lasten? Wohl kaum.

Zum sicherheitspolitischen Kernthema avancierte nach dem Flugzeug- und Milzbrandterror in Amerika das Ausweisungsrecht. Ungeachtet des aktuellen Standes im Ringen zwischen konservativen und rot-grünen Lösungspräferenzen erscheint eine richtungweisende Verschärfung der tendenziell permissiven, vom egalitaristischen Geist der Multikultur mitgestalteten §§ 45 ff. AuslG unverzichtbar. Gesetzlich klar definierte Neigungen eines Ausländers zu politischem oder religiösem Extremismus gehören in die Liste der „einzelnen Ausweisungsgründe“ des § 46 AuslG (Ermessensvorschrift), jede Teilnahme an terroristischen Bestrebungen auch ohne Strafurteil in die Aufzählung des § 47 AuslG („Ausweisung wegen besonderer Gefährlichkeit“).

Schwerpunkt des § 53 AuslG ist das Verbot der Abschiebung in Staaten, in denen einem Ausländer entweder Folter (Abs. 1), Todesstrafe (Abs. 2) oder aber erhebliche konkrete Gefahren für Leib, Leben und Freiheit durch nichtstaatliche Verfolgung (Abs. 6, Ermessensvorschrift) drohen. Diese Regelungen werden meist als Konkretisierungen der Genfer Flüchtlingskonvention (GK) und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten („Europäische Menschenrechtskonvention“) betrachtet. Das stimmt aber nur zum Teil. Während § 53 Abs. 1 AuslG hervorragende Beiträge im weltweiten Kampf gegen die Barbarei liefert und sich tatsächlich als kongeniale Ausprägung des Art. 3 EMK („niemand darf der Folter unterworfen werden“) sowie weiterer zentraler GK- und EMK-Prinzipien deuten läßt, signalisiert § 53 Abs. 2 AuslG manifeste Wertungswidersprüche. Zum einen greift diese Norm weit über die Europäische Menschenrechtskonvention hinaus; denn Art. 2 Abs. 1 Satz 2 EMK erklärt die Vollstreckung eines Todesurteils im Falle eines mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausdrücklich für rechtens. Zum anderen erweitert § 53 Abs. 2 AuslG den geschützten Personenkreis speziell gegenüber der Genfer Konvention, die sich definitionsgemäß (Art. 1 A GK) lediglich auf „Flüchtlinge“, also politisch Verfolgte bezieht. § 53 Abs. 2 AuslG bewahrt dagegen auch (gewöhnliche) Kriminelle vor der Abschiebung in einen Staat, in dem ihnen wegen unbestreitbar strafwürdiger, vielleicht sogar bestialischer Verbrechen die Todesstrafe droht. Derlei Humanitätsgebaren mag man mit dem Verbot der Todesstrafe (Art. 102 GG) oder gar mit der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) rechtfertigen. Rechtsethisch zwingend erscheint eine solche, den räumlichen Geltungsbereich des Grundgesetzes vergrößernde Verfassungsinterpretation aber nicht. Kernfragen der Rechtsphilosophie tauchen aus der politisch korrekten Versenkung auf. Verstößt die Todesstrafe für flagrant menschenverachtende Horrortaten selbst unter strengen rechtsstaatlichen Prozeßbedingungen zwangsläufig gegen die Menschenwürde? Berauben sich die Täter ihrer Würde nicht eher selbst? Hat die Bundesrepublik Deutschland wirklich die rechtsethisch unabweisbare Pflicht, ausländische Kapitalverbrecher vor der Todesstrafe durch eine fremde Macht zu schützen? Ein weiteres kommt hinzu: Einer Bestrafung dieser Verbrecher in Deutschland dürften zwar seltener rechtliche (siehe hierzu die §§ 5 ff StGB), des öfteren aber tatsächliche Gründe entgegenstehen. Wer will es verantworten, die Täter - und sei es auch nur vorübergehend - hierzulande frei herumlaufen zu lassen?

Die Atempause scheint beendet. Nach mehrjähriger Abstinenz schicken die Themenkreise „großes und kleines Asyl“ sich an, ihre zentrale Rolle in der rechtspolitischen Diskussion zurückzuerobern. Maßgeblich beruht das auf den Vorschlägen der beiden Zuwanderungskommissionen Rita Süssmuths und Peter Müllers sowie auf Otto Schilys Referentenentwurf für ein Zuwanderungsgesetz („Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern“). Diese drei Initiativen werden der vielschichtigen Problematik aber nur bedingt gerecht. Trotz aller vernünftigen Distanz zu multikulturalistischer Gemütsromantik und sonstigen egalitaristischen Alltagsphilosophien basieren vor allem die Pläne Schilys und Süssmuths auf der Proklamierung eines „Einwanderungsbedarfs“, der bei Lichte besehen kaum besteht. Weder demographische noch ökonomische Faktoren erfordern eine (auf Dauer angelegte) Immigration. Keine Einwanderung, und sei sie noch so üppig, kann die prognostizierte „demographische Lücke“ verkleinern. Dies vermag - langfristig - bestenfalls eine pronatalistische Steuer- und Sozialpolitik, da alle statistischen Parameter darauf hindeuten, daß unsere Immigranten alsbald Deutschlands eklatant niedrige Geburtenrate „übernehmen“. Auch die Aspekte Arbeitsmarkt und Rentensicherung liefern kaum rationale Anhaltspunkte für aktuellen Einwanderungsbedarf. Angesichts weiter steigender Arbeitslosenzahlen, des noch lange nicht erschlossenen einheimischen Fachkräftepotentials und der exorbitanten Unzuverlässigkeit langfristiger Arbeitsmarktprognosen reichen befristete Greencard-Engagements, Saison-Arbeitsverträge usw. regelmäßig aus. Unbefristete Aufenthaltsrechte, noch dazu ohne zahlenmäßige Begrenzung, für „Existenzgründer“, „hochqualifizierte Einwanderer“ und „Spitzenkräfte aus der Wirtschaft“ (so die idealisierende, beinahe euphemistische Terminologie der Süssmuth-Kommission) sind allenfalls eine Option für künftige Dekaden. Dann freilich könnten Hunderttausende oder gar Millionen Arbeitskräfte aus den osteuropäischen EU-Beitrittsländern, deren Migration gar nicht Gegenstand eines Einwanderungsgesetzes sein darf, in Deutschland beschäftigt werden. Beim Thema Rentensicherung bleibt zusätzlich folgendes zu beachten: Auch die nach Deutschland immigrierenden Arbeitskräfte werden ebenso wie ihre nachziehenden, meist nicht (mehr) erwerbstätigen Eltern und Ehegatten eines Tages unsere Rentenkassen in Anspruch nehmen. Einwanderung befriedigt keinen bestehenden, sie erzeugt vielmehr (bei anhaltend niedriger Geburtenrate) einen immer stärkeren „Einwanderungsbedarf“!

Zwei weitere Argumente - ökologisch das eine, soziologisch das andere - bekräftigen den demographischen Befund. Erstens bewirkt ein allmählicher Bevölkerungsrückgang im dicht besiedelten Deutschland alles andere als ein Horrorszenario. Und zweitens leidet unsere Gesellschaft nach massivem Bevölkerungszuwachs aus den soziokulturellen Welten des Orients unter einer erheblich eingeschränkten Resorptionsfähigkeit. Die partiell unleugbare Faszination jener Welten ändert daran nichts. „Die Freuden, die man übertreibt, verwandeln sich in Schmerzen“ (Justin Bertuch, 1721). Maximen rationaler Migrationspolitik können daher nur Zurückhaltung, Besonnenheit und die Bekämpfung des Schmerzes vieler Deutscher ob des ihnen drohenden Identitätsverlustes sein.

 

Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist und promoviert über Gustav Radbruch. In JF 3/02 schrieb er über die Euro-Einführung.


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