© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/02 08. März 2002


Benes-Dekrete
Die Rückkehr von Versailles und Jalta
Carl Gustaf Ströhm

Die Benes-Dekrete und die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei - das wa-ren bisher in der deutschen Öffentlichkeit marginale Themen, mit denen sich allenfalls die ausgegrenzten Landsmannschaften befaßten. Jetzt aber hat sich das schlagartig verändert, wobei die Umstände an das Bibelwort erinnern: Die Letzten werden die Ersten sein.

Mit einem Male beschäftigen sich das Europa-Parlament und die EU-Kommission, die österreichische und die deutsche Bundesregierung mit diesem heißen Thema. Bundeskanzler Gerhard Schröder - gewiß kein Freund der Sudetendeutschen und bislang am Benes-Thema uninteressiert - sagte eine offizielle Prag-Reise ab. Offenbar fürchtet er sich, von seinem sozialdemokratischen Amtskollegen Milos Zeman - der die Kollektivschuld der Sudetendeutschen proklamierte und den Israelis die Vertreibung der Palästinenser nach böhmischen Vorbild empfahl - in gefährliche Situationen manövriert zu werden. Man muß schließlich an die Wahlen denken!

Bleibt festzuhalten, daß das kleine Österreich in der Frage der Benes-Dekrete, die keinesfalls in eine EU-Rechtsordnung passen, wesentlich deutlicher Position zugunsten der Vertriebenen bezogen hat, als die Berliner Regierung. Aber auch von CDU/CSU hätte man sich eine deutlichere Sprache in Richtung Prag gewünscht. Warum diese Furchtsamkeit bei der Formulierung deutscher Wünsche und Interessen?

Gewiß muß auch nach den Hintergründen des Konflikts gefragt werden. Offenbar hat man 1997 die deutsch-tschechische Versöhnungserklärung auf Sand gebaut, weil die Vertreibung unter den Teppich gekehrt wurde. Jetzt wird die ganze Fragwürdigkeit solcher Deklarationen samt dazugehöriger Historikerkommissionen sichtbar, solange die Fakten nicht ausgesprochen werden können oder dürfen.

Überdies legt das auftrumpfende Verhalten tschechischer Politiker - von links bis rechts, von Zeman über Havel bis Václav Klaus - die Frage nahe: Wem nutzt es? Wer in und außerhalb Europas hat Interesse daran, den Tschechen zum zweiten und dritten Mal in der Geschichte die Rolle eines anti-deutschen Pfahls im Fleische Mitteleuropas zuzuweisen? Schon nach dem Ersten Weltkrieg wurde Prag - übrigens gemeinsam mit Belgrad - zum Eckpfeiler einer Ordnung, deren Ziel es war, deutschen und österreichischen Einfluß auf Mittel-, Ost- und Südosteuropa möglichst zu verhindern.

Jetzt spricht man in Prag von einer anti-tschechischen „Achse München-Wien-Budapest-Preßburg“. Das ist natürlich unsinnig, enthält aber insofern ein Körnchen Wahrheit, als jene Völker und Staaten, die eine mitteleuropäische Zukunft nicht auf Versailles und Jalta aufbauen wollen, einen klaren Schlußstrich unter eine Politik wünschen, die auf Vertreibungen und „ethnischen Säuberungen“ beruht. Man kann nicht einerseits Slobodan Milosevic vor Gericht stellen, und gleichzeitig die gleiche Politik für Böhmen gutheißen. Die Geschichte läßt sich nicht hinters Licht führen.


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