© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/02 08. März 2002

 
Chaos-Regeln
Die Rechtschreibreform ist gescheitert. Gibt es jetzt eine Reform der Reform?
Thomas Paulwitz

Diese Bereicherung hat dem Sprachvolk gerade noch gefehlt. Mit einer genialen Erfindung werden die Rechtschreibreformer in das Kuriositätenkabinett der Orthographiegeschichte eingehen. In ihrem 3. Bericht hat die „Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung“ eine „Toleranz-Metaregel“ aus der Taufe gehoben. Mit ihr sollen künftig bestimmte nichtreformgemäße Schreibweisen großzügigerweise erlaubt sein. Die klassische Rechtschreibung, welche die Mehrheit des deutschen Sprachvolkes nach wie vor gebraucht, erklären die Reformer in vielen Fällen zu einer „Variante“ des Neuschriebs und biegen sich auf diese Weise die Wirklichkeit zurecht.

Eigentlich wollten die Rechtschreibreformer den Bericht, der den Zeitraum der Jahre 2000 und 2001 umfaßt, geheimhalten. Doch daraus wurde nichts. Nicht nur der Deutschen Sprachwelt lag der mit dem Vermerk „vertraulich!“ versehene Bericht bereits längst vor, bevor die Kultusminister über ihn beraten konnten. Mit wohlbegründeter Kritik am neuesten Kommissionsbericht sorgte der Erlanger Rechtschreibkritiker Theodor Ickler für großen Wirbel. Ickler ist ein ausgewiesener Fachmann. Im vergangenen Jahr wurde er für seine Leistungen auf dem Gebiet der Orthographietheorie und -geschichte mit dem „Deutschen Sprachpreis“ ausgezeichnet. Die vorzeitige Zerlegung ihres Berichtes traf die Kommission unvorbereitet. Die sofort einsetzenden Beschwichtigungsversuche nutzten ihr nichts.

Der Bericht kommt zu dem Befund, daß drei Jahre nach seinem Stapellauf das Alptraumschiff der Rechtschreibreform noch lange nicht in der Schriftsprache verankert ist. Das kann keinen überraschen, denn Meinungsumfragen belegen immer wieder den fehlenden Rückhalt in der Sprachgemeinschaft.

Immer noch werden in der Schule Regeln gelehrt, die außerhalb des Klassenzimmers nicht angewandt werden. Die JUNGE FREIHEIT ist glücklicherweise nie in die Sackgasse der Rechtschreibreform gerannt. Die Frankfurter Allgemeine und die österreichische Presse haben den Reformunsinn erkannt. Zahlreiche Schriftsteller haben sich ausbedungen, daß ihre Werke in klassischer Schreibung erscheinen. Weniger unabhängige Zeitungen und Verlage haben sich jedoch einem unausgesprochenen Diktat gebeugt. Dabei entstanden eine Reihe von „Hausorthographien“, die die Rechtschreibreform unterschiedlich auslegten und das Durcheinander noch verstärkten.

Die Reformer geben in ihrem Bericht zu, daß die Einwände der Kritiker „alle ihr Für und Wider haben“. Statt nun die Konsequenzen zu ziehen und die Reform dorthin zu werfen, wo sie hingehört, nämlich auf den Müllhaufen der deutschen Sprachgeschichte, spornt dieses Ergebnis die Zauberlehrlinge der Orthographie zu neuen Taten an. Ihr Bericht raunt das Zauberwort: „Toleranz-Metaregel“.

Aufgrund dieser Chaos-Regel müssen die Neuschrieb-Regeln formal nicht geändert werden. Dennoch ermöglicht sie neue Wörterbuch-Versionen, da ja eine Vielzahl von „Varianten“ dargeboten werden muß. Das Bertelsmann-Unternehmen plant schon für dieses Jahr die Neuauflage seines Rechtschreibwörterbuchs. Den Dudenverlag ermahnt die Kommission sogar, nicht nachzustehen und den Duden weiter auszubauen. Nicht nur die Wörterbuch-, sondern auch die Kinderbuch- und Schulbuchverlage gehören zu den Nutznießern der Chaos-Regel. Alle bisher umgestellten Schulbücher, für Millionen von Euro angeschafft, werden wertlos.

Der Kommissionsbericht läßt erwarten, daß zum Beispiel grammatisch falsche Getrenntschreibungen wie „es ist Besorgnis erregend“ wieder rückgängig gemacht werden, daß etwa „so Leid es mir tut“ in der „Variante“ - das bedeutet in der hergebrachten Schreibung - „so leid es mir tut“ wieder erlaubt ist, daß etwa „so genannt“ wieder zusammengeschrieben werden darf. Der Chaos-Regel sei Dank. Doch damit nicht genug: Die Reformer erschließen neue Variantenwelten, die nie ein Mensch zuvor geschrieben hat, und schlagen Schreibweisen vor wie „leidtun“, „inacht nehmen“, „außeracht lassen“. Die Ausgeburten der Chaos-Regel dürften - wie üblich - stillschweigend in die Neuauflagen der großen Wörterbücher Aufnahme finden.

Nicht von ungefähr kommt es, daß 40 Prozent der Schüler in der Pisa-Studie angaben, nicht zum Vergnügen zu lesen. Am Rande der Kultusministerkonferenz, die in der vergangenen Woche stattfand, klagte eine Ministerin: „Wir verlieren viel zu viel Zeit für das Erlernen richtiger Rechtschreibung.“ Wo doch das Heil der Rechtschreibreform darin liegen sollte, alles zu vereinfachen! In Wirklichkeit ist jedoch das reformierte orthographische Regelwerk anderthalbmal so umfangreich wie das des Dudens von 1991.

Muß also eine Reform der Reform her? Ein Chaos läßt sich nicht reformieren. Der Einstieg in den Ausstieg der mißlungenen Schreibreform und das allgemeine Bekenntnis zur klassischen Schreibung ist geboten, damit endlich wieder die Einheit der Orthographie hergestellt wird. Denn im Grunde bedeutet die Chaos-Regel: Jeder möge so schreiben, daß er vom anderen nicht mehr verstanden zu werden braucht.

 

Thomas Paulwitz ist Schriftleiter der viermal im Jahr erscheinenden Deutschen Sprachwelt (Postfach 1449, 91004 Erlangen, Internet: www.deutsche-sprachwelt.de )


 
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