© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/02 08. März 2002

 
Das geistige Erbe ist verschollen
Wenn der Hegemon sich langweilt: Für eine Wiederbelebung Preußens fehlen die Voraussetzungen
Karlheinz Weißmann

Nun ist das politische Feuilleton also doch nicht tot. Keine Genom-Sequenzen mehr oder Artikel über Nano-Technologie, sondern Debatten, zum Beispiel über die Notwendigkeit, ein Bundesland Preußen zu schaffen. Nach dem Ende des „Preußenjahres“ 2001 wenig naheliegend, aber da die Sache sowieso nicht ernst gemeint ist, spielt diese Erwägung eine untergeordnete Rolle. Wenn die Diskussion ernst gemeint wäre, müßte man sich allerdings Sorgen machen: um die Alibi-Konservativen, die auf diesem Weg eine Therapie gesellschaftlicher Malaisen oder ihrer nostalgischen Bedürfnisse erhoffen, und um den Geisteszustand der Verantwortlichen des FAZ-Kulturteils. Aber nichts davon. Es handelt sich um eine Inszenierung, ein intellektuelles Event ohne Bedeutung.

Eine Restauration Preußens eignet sich dazu deshalb, weil das Thema seine Bedeutung verloren hat, weil es erfolgreich „neutralisiert“ wurde. Als „Neutralisierung“ bezeichnete Carl Schmitt jenen Vorgang, durch den man ein bestimmtes - umstrittenes - Thema aus dem geistigen „Zentrum wegverlegt“. Um solche Neutralisierung zu erreichen, bedarf es entweder der weitgehenden Erschöpfung der streitenden Parteien und ihres Einvernehmens oder des Sieges, der einen der Gegner vollständig ausschaltet.

Hier trifft wohl letzterer Fall zu. Noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit war Preußen ein politisches Thema, bildeten die „Potsdamdeutschen“ (Barbro Eberan) ein gewisses Potential, war die Erinnerung an die preußische Vergangenheit nicht ganz erloschen. Aber das änderte sich zwangsläufig, nachdem die Zerstörung der preußischen Institutionen lange genug zurück lag. Immerhin, als das „erste“ Preußenjahr stattfand und die SED ihre „Erben-Politik“ mit der Rehabilitierung Friedrichs des Großen krönen wollte, gab es noch politische Debatten um Preußen.

Dasselbe gilt grundsätzlich für den Streit nach der Vereinigung über ein östlicheres und protestantischeres Deutschland in der Mitte des Kontinents, das wieder den Gefahren und Möglichkeiten der conditio borussiae ausgesetzt wäre. Schon die Intensität dieser Auseinandersetzungen zeigte, daß es um etwas ging, daß hier Kampfparteien einander gegenüber standen, die Freund und Feind zu unterscheiden bereit waren.

Davon kann heute keine Rede sein. Es gibt nirgends mehr Substanz, aus der man eine „preußische Partei“ formen könnte. Der größte Teil der preußischen Kerngebiete ist verloren, die alte Oberschicht dezimiert und entmachtet, das geistige Erbe verschollen. Die Plausibilität der preußischen Tugenden in einer Wohlfahrtsgesellschaft deutlich zu machen, bleibt ein hoffnungsloses Unterfangen, auch wenn der eine oder andere bei der Beschwörung den ästhetischen Reiz empfinden mag.

Die Erinnerung an Preußen hat überhaupt nur noch politischen Sinn, wenn man darunter eine subversive Erinnerung versteht, die von der offiziellen und erwünschten abweicht. Solche Erinnerung behält trotz oder wegen der Mißachtung und Unterdrückung, mit der sie gestraft wird, einen (Kampf-)Wert. Die Sperrigkeit gegenüber dem common sense verbürgt ihre Eignung als geistige Waffe, erfolgreich anwendbar aber erst unter anderen Bedingungen als den heute herrschenden.

Was hier für Preußen gesagt wurde, gilt eigentlich im ganzen Bereich der von „rechts“ vertretenen geschichtspolitischen Positionen: ob es sich um den „Sonderweg“ oder die Güte der Romantik handelt, um die Deutsche Bewegung, die Kriegsschuldfrage oder die Gefahr des Bolschewismus, um die Folgen des Versailler Vertrages, um die Einschätzung des NS-Regimes oder die Kriegsverbrechen der Alliierten, insbesondere der Sowjetunion, oder den Sinn und Unsinn der Westbindung Deutschlands - immer wurde und wird hier eine Menge von Kenntnissen bewahrt und von Perspektiven verteidigt, die man nach 1945 oder nach 1968 sukzessive vom Diskurs ausschloß, ohne die Fakten oder die Deutungen als solche erledigen zu können.

Damit ist nichts über die sachliche Richtigkeit der Behauptungen im einzelnen oder die moralische Erwünschtheit der Interpretationen gesagt, aber etwas über die Machtverteilung im Kampf um die Meinungs- und Deutungshoheit. Und umgekehrt besagt natürlich auch die Dominanz der von „links“ ins Feld geführten Fakten und Deutungen nichts über deren Tatsächlichkeit und Dignität.

Was darf derjenige, der den Kampfplatz überblickt, von verspäteten Einsichten irgendwelcher Schriftsteller oder Artikelfolgen über das Preußische erhoffen? Es bleibt ihm nur festzustellen, daß der kulturelle Hegemon sich langweilt. Solche Langeweile kann unvorsichtig machen, und solche Unvorsichtigkeit bietet dem Schwächeren Chancen. Die zu nutzen bedarf es der Klugheit, und klug wäre es, in der gegebenen Lage abzuwarten, keinesfalls über eine bevorstehende Tendenzwende zu frohlocken oder sich inhaltlich an einer so albernen Diskussion wie der über ein „Bundesland Preußen“ zu beteiligen.

Sonst läuft man Gefahr, mit Alwin Ziel und Florian Illies im selben Meinungslager zu stehen, und verliert jedenfalls den Respekt vor dem Herrn der Geschichte, der den Untergang Preußens zugelassen hat. Bismarck konnte sich ganz nüchtern vorstellen, daß in Zukunft das brandenburgische Kernland einer korrupten römisch-slawischen Gewaltherrschaft ausgeliefert oder von Fremden besiedelt werde und äußerte 1886 in einer Reichstagsrede Bedenken, „... wie lange Gott überhaupt im Sinne hat, das Deutsche Reich und das Königreich Preußen zu erhalten“.

Solches Bewußtsein von der Endlichkeit aller irdischen Dinge hat ihn keineswegs zur Resignation verleitet, sondern zu der Einschätzung geführt, daß starres Festhalten am Gegebenen ebenso unfruchtbar bleibt wie der Versuch der Restauration. Nur die schöpferische Tat ist im eigentlichen Sinn konservativ: „Wenn man eine alte Form umformen will, muß man dieselbe zuerst flüssig machen.“

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Autor des Buches „Die preußische Dimension“ (Herbig, München 2001)


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen