© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/02 08. März 2002

 
Ungelöste Rätsel
Der Erotomane: Zur Erinnerung an Pier Paolo Pasolini
Doris Neujahr

Der Tod, den Pier Paolo Pasolini am 2. November 1975 am Strand von Ostia bei Rom starb, war grausam und von mythischer Wucht: Pasolini wurde von dem 17jährigen Stricher Pino Pelosi erschlagen und anschließend mit dem eigenen Auto überfahren. Als Jahre später sein Leichnam im Espresso veröffentlicht wurde, erkannten Freunde daran die „Wunden eines heiligen Martyriums“. Die Geheimnisse und Gerüchte, die sich um sein Ende ranken, sind ein Widerschein der Obsessionen und Skandale seines Lebens.

Pasolinis Biographie und sein geistiger Kosmos sind voller Paradoxien: Er war Marxist, der die katholische Kirche drängte, sich dem Zeitgeist zu verweigern. Er lebte seine Homosexualität spektakulär aus und wetterte gleichzeitig gegen die sexuelle Libertinage. Er war Kommunist, der dem Faschismus im Film „Die 120 Tage von Sodom“ (1975) ein de Sadesches Erlärungsmuster zugrunde legte und andererseits darauf bestand, daß das faschistische Italien den Unterprivilegierten eine würdigere Existenz ermöglicht habe als die Konsumgesellschaft.

Vor 80 Jahren, am 5. März 1922, als Sohn eines Offiziers in Bologna geboren, geriet er mit der erwachenden Sexualität an die Toleranzgrenzen der italienischen Gesellschaft. Er arbeitete als Lehrer, bis er wegen seiner Homosexualität entlassen wurde. Hoffnungen setzte er auf Randgruppen. Sein erster Film „Accatone“ (1961) erzählt die Geschichte eines Straßendiebs, der am Schluß stirbt, dem aber, wegen einer Geste der Selbstlosigkeit, die Chance der Erlösung eröffnet wird. Der Film ist mit Musik aus Bachs „Matthäuspassion“ unterlegt. Für die großbürgerliche Familie im Film „Teorema - Geometrie der Liebe“ (1968) hingegen bedeutet die Begegnung mit dem Heiligen in der Gestalt eines jungen Mannes statt Läuterung nur gesteigerte Dekadenz und Selbstzerstörung.

Pasolini hatte als Romanautor und Lyriker begonnen. Von nachhaltiger Wirkung sind auch seine kulturkritischen „Freibeuterschriften“, Polemiken, die zwischen 1973 und 1975 im Corriere della Siera erschienen und ein bitteres Fazit der grassierenden Fortschritts- und Reformeuphorie zogen. Pasolini konstatierte die Verschmelzung der gesellschaftlichen Emanzipationsbewegung mit den Marktbedürfnissen. Der Nonkonformismus war mittlerweile in den Zwang umschlagen, den offerierten Freiheiten konformistisch zu genügen. Das vorher immer noch untergründig wirksame Gefühl für das Andere, für das Heilige, war begraben worden unter der Allgegenwart des Präsens: „Die neue bürgerliche Herrschaft braucht nämlich Konsumenten mit einer ausschließlich pragmatischen und hedonistischen Mentalität; denn der Zyklus von Produktion und Konsum vollzieht sich am reibungslosesten in einer technizistischen und rein irdischen Welt.“ Noch den jungen Faschisten, die Terroranschläge verübten, gestand er eine Widerstandsqualität zu. Er betrachtete sie als Produkte einer „links-rechten Kultur“, die „in ihnen einen unerträglichen Zustand von Konformismus und Neurose - und folglich Extremismus“ erzeugt hatte.

Die soziale und politische Revolution dachte er sich vielmehr als Notbremse, denn als Lokomotive der Weltgeschichte. Mit der kommunistischen Bewegung, die jede gesellschaftliche Beschleunigung zur Auflösung traditioneller Bindungen und Differenzen als Fortschritt feierte, geriet er in Konflikt. Seine Feinde standen schließlich auf der Linken wie auf der Rechten.

Sein Mörder wurde zu neun Jahren Gefängnis verurteilt, sieben saß er davon ab. Das Gericht ging von einem Einzeltäter aus. Dennoch gilt vieles an den Todesumständen bis heute als ungeklärt, was die Spekulationen über ein politisches Komplott nährt. Andererseits haben Freunde Pasolinis darauf verwiesen, daß dieser den Tod wohl gesucht habe. Dem geschulten Blick dieses Menschenkenners könne gar nicht entgangen sein, daß er an jenem Novemberabend 1975 einen potentiellen Mörder in sein Auto steigen ließ. Die Gründe für diesen vermittelten Suizid sehen sie in der Tragik des alternden Mannes und Künstlers, in der Enttäuschung des politischen Intellektuellen und Erotomanen. Der zum Instrument seines Selbstmordes erwählte Täter mußte ein Angehöriger der „Ragazzi di Vita“ - so der Titel seines ersten Romans - sein, ein Junge aus dem römischen Subproletariat, das er früher als Sinnbild einer Poesie und eines Eros, die sich gegen die versachlichte Gesellschaft sperrten, gefeiert hatte, das nun aber vom Konsumismus durch und durch korrumpiert war: Ein Mord als ein Selbstmord als ein Opfertod. Leben, Tod und Werk Pasolinis geben der Nachwelt faszinierende, vielleicht unlösbare Rätsel auf. Mehr kann man als Künstler gar nicht erreichen.

 

Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Wagenbach Verlag, Berlin, 174 Seiten, 9,90 Euro


 
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