© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/02 08. März 2002


Armes reiches Land
von Manfred Ritter

Wenn die Bürger in Europa wüßten, in welchem Maß ihr Wohlstand durch die Globalisierung bereits bedroht ist, hätten sie vermutlich schlaflose Nächte. Verwöhnt durch Jahrzehnte des Massenwohlstandes und gute soziale Netze verdrängen sie den Gedanken, daß die für jeden erkennbare Abwanderung vieler Industriebetriebe in die Niedriglohnländer zu einer Verarmung breiter Bevölkerungsschichten bei uns führen könnte. Deshalb genießen professionelle „Gesundbeter“ (auch bei Politikern) großes Vertrauen, obwohl sie seit vielen Jahren in regelmäßigen Abständen die falsche Prognose abgeben, daß die Konjunktur in einigen Monaten anspringen werde.

Selbst die bereits fortgeschrittene Rezession in den USA, die man erst unter dem Schock des Terroraktes auf das World Trade Center in New York richtig zur Kenntnis nahm, ist für viele kein Grund zur Beunruhigung. Denn trotz gelegentlicher Warnungen von Fachleuten, daß diese Rezession sehr ernst zu nehmen sei und wegen der Abhängigkeit der meisten Industriestaaten von den USA auch erhebliche negative Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft haben werde, hört man lieber auf die „Optimisten“ unter den Wirtschaftsgurus. Diese kündigen die baldige Erholung der US-Konjunktur unter anderem mit dem Hinweis an, daß Rezessionen in den USA in den vergangenen Jahrzehnten regelmäßig von kurzer Dauer waren. Doch die Globalisierung hat die Wirtschaftsstrukturen in den meisten Industriestaaten bereits gravierend verändert, und diese Veränderung erfolgte eindeutig zu Lasten der großen Masse der Arbeitnehmer. Es liegt eben nicht nur am sogenannten Anspruchsdenken, daß die Unzufriedenheit steigt, sondern der Lebensstandard der breiten Mitte ist tatsächlich bedroht.

Auch an den USA ist die Globalisierung mit dem Abbau aller Handelsschranken nicht spurlos vorübergegangen. Ähnlich wie in Europa und anderen Hochlohnländern sind auch in den USA erhebliche Teile der Produktionsindustrie in die Niedriglohnländer abgewandert, mit der Folge, daß hochwertige solide Arbeitsplätze verloren gegangen sind. Ziel dieser Abwanderung ist die Gewinnmaximierung der Konzerne durch Ausnutzung der billigsten Produktionsstandorte und den anschließenden Verkauf der Produkte in den Hochlohnländern zu erheblich höheren Preisen, als man sie in den Niedriglohnländern erzielen könnte. Aufgrund eines jahrelangen Wirtschaftsbooms in den USA konnten diese Verluste jedoch durch neue - meist schlechter bezahlte - Dienstleistungsjobs ersetzt werden. Europas Export- und Arbeitsmärkte profitierten auch von diesem Boom - und vom niedrigen Euro- Kurs. So entstand die Illusion, daß die Globalisierung den Arbeitsmarkt nicht dramatisch verschlechtert. Dies ersparte den Politikern und den „global players“ unangenehme Diskussionen.

 

Keiner gibt zu, daß die hohe Arbeits-losigkeit auch eine Folge der Globalisierung ist. Der Konkurrenzdruck zwingt die Unternehmer, in Billiglohnländern zu produzieren, wo die Menschen fast
umsonst schuften.

 

Wenn man die Sache allerdings näher analysiert, wird erkennbar, daß amerikanischer Optimismus verbunden mit großzügiger Kreditpolitik der Banken der eigentliche Motor dieser Blüte war und daß nun mit der Rezession die „Stunde der (Globalisierungs-) Wahrheit“ gekommen ist. Entscheidend für diese Entwicklung dürfte unter anderem das Scheckkartensystem der USA gewesen sein, das es den Bürgern erlaubt, bei einer Vielzahl von Banken Konten zu eröffnen und die damit verbundenen Spielräume für Überziehungskredite voll auszuschöpfen. Ein für europäische Verhältnisse nicht vorstellbarer Anteil der Privathaushalte hat sich daher weit über seine Leistungsfähigkeit hinaus verschuldet. Viele, die wegen der Globalisierung auf schlechter bezahlte Dienstleistungsjobs umsteigen mußten, hofften wohl, daß sich ihre finanzielle Situation in absehbarer Zeit wieder bessern würde. Die derzeitige Rezession zerschlägt diese Hoffnungen und veranlaßt die Banken zu mehr Zurückhaltung bei den Kreditvergaben. Auch weniger verschuldete Bürger werden sich hüten, in solch unsicherer Lage in einen Kaufrausch zu verfallen. Sehr reiche Familien, die große Teile des Aktienbesitzes auf sich vereinigen und zu den eigentlichen Gewinnern der Globalisierung zählen, haben ebenfalls keinen Anlaß, im großen Rahmen Massenprodukte des täglichen Bedarfs zu kaufen, um die Nachfrageausfälle bei den Durchschnittsbürgern auszugleichen. Ein Multimillionär kauft sich nicht Hunderte von Pkws. Eine Konjunkturankurbelung durch kräftig gesteigerte Nachfrage nach Massenartikeln ist also nicht zu erwarten. Ebensowenig werden kapitalkräftige Kreise bei dieser Lage in größerem Umfang Investitionen im Produktions- oder Dienstleitungsbereich vornehmen.

Deshalb ist zu befürchten, daß die Rezession in den USA weitaus länger anhalten wird, als viele Politiker und Experten erwarten. Die negativen Folgen für die Wirtschaft Europas und anderer Industriestaaten sind - auch wegen der Globalisierung - unvermeidbar. Ein Gegensteuern über nationale Konjunkturprogramme der betroffenen Staaten scheitert nicht nur an den meist leeren Kassen, sondern auch an der Tatsache, daß die zur Verfügung gestellten Gelder im Rahmen der Globalisierung in den meisten Fällen nur zu einem Teil im Lande blieben, während große Teile über vermehrte Importe ins Ausland fließen würden.

Es gibt lediglich einen Bereich, vor dem aus Gründen der nationalen Sicherheit die Globalisierung bisher Halt gemacht hat und dies ist die Rüstungsindustrie! Staatliche Aufträge in diesem Bereich gehören daher im Rahmen der Globalisierung zu den besten nationalen Arbeitsplatzbeschaffungsinstrumenten. Wenn man die derzeitige Militärpolitik der USA unter diesem Gesichtspunkt analysiert, kann man zu der schockierenden Erkenntnis kommen, daß die USA jetzt versuchen, mit einer gewaltig gesteigerten Aufrüstung das Steuer in der Wirtschaftspolitik herumzureißen. Erklärt dies die verzweifelte Suche der USA nach neuen Kriegsgegnern (unter dem Stichwort: „Kampf gegen den Terrorismus“), mit denen man diese Aufrüstung rechtfertigen und von den Europäern mit bezahlen lassen kann?

Da leider sehr viel für diese These spricht und zumindest wir Europäer keinen Anlaß haben, uns in eine solche abenteuerliche, teure und mörderische Politik verstricken zu lassen, wäre es höchste Zeit, nach Alternativen zur Globalisierung zu suchen, die eine solche „Konjunktur-“ bzw. „Kriegspolitik“ überflüssig machen würden. Es geht hierbei nicht nur um „Krieg und Frieden“. Eine durch die Globalisierung zu erwartende, lang andauernde Rezession, die sich im ungünstigsten Fall sogar zu einer Weltwirtschaftskrise ausweiten könnte, hätte ebenso katastrophale Folgen. Am Ende einer solchen Entwicklung gäbe es keinen „Wohlstand für Alle“ mehr und der europäische Arbeitsmarkt müßte die asiatischen Billiglöhne übernehmen. Die destabilisierenden Folgen für unsere Gesellschaftsordnung kann sich jeder selbst ausmalen.

Aufgrund dieser Globalisierungsrisiken wird es für die Hochlohnländer zu einer Existenzfrage, einen Weg aus der Globalisierungsfalle zu finden, um die in Billiglohnländer abgewanderten Industriebetriebe wieder zurückzuholen. Die Globalisierungsprofiteure behaupten zwar, daß es zu ihrer Politik keine Alternative gäbe, doch diese Propagandathese ist bereits mit dem Hinweis zu widerlegen, daß vor der Beseitigung aller Grenzen des Handels und Kapitalverkehrs, die Weltwirtschaft und die Wirtschaft der einzelnen Industriestaaten in den meisten Fällen vorzüglich funktioniert hat. Die Tatsache, daß die Großindustrie mit ihrem gewaltigen Einfluß auf die Politik das Globalisierungsmodell durchgesetzt hat, beweist noch lange nicht, daß die Wirtschaft ohne dieses Modell nicht genauso gut oder sogar noch besser funktionieren würde. Deshalb sind die Wirtschaftsmodelle der Vergangenheit mit ihren Schutzzollsystemen keineswegs überholt. Sie müssen lediglich einen Rückfall in die Kleinstaaterei vermeiden, also einen vernünftigen Kompromiß mit der modernen Großräumigkeit eingehen.

Dieser Kompromiß ließe sich durch eine „Großräumige Regionalisierung“ der Weltwirtschaft herstellen. Ein derartiges Modell müßte nicht einmal neu erfunden werden. In der Form der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), als Vorgängerin der EU, hat es seine „Feuertaufe“ längst erfolgreich bestanden. Die EWG sah - bei Zollfreiheit im Inneren der Gemeinschaft - Schutzzölle an den gemeinsamen Außengrenzen vor. Warum sollte ein solches Modell in einem erheblich vergrößerten Europa nicht funktionieren, wenn man es mit der erforderlichen Flexibilität handhabt?

Zu dieser Flexibilität gehören bilaterale (Zollfreiheits-)Vereinbarungen mit geeigneten anderen Hochlohnländern (zum Beispiel den USA) oder Staatengemeinschaften ebenso, wie die sorgfältige Auswahl der mit Zöllen zu schützenden Produkte. Schutzbedürftig sind die Industriegüter, die man zur weitgehenden Deckung des europäischen Bedarfs auch in Europa herstellen will. Um dieses Ziel zu erreichen, muß man die Zölle für diese Waren an den gemeinsamen Außengrenzen auf ein Niveau anheben, das die Chancengleichheit der europäischen Produzenten wieder herstellt. Die Importgüter müssen also soweit verteuert werden, daß sie nicht wesentlich billiger als vergleichbare europäische Produkte verkauft werden können. Im übrigen sind unsere Exportüberschüsse so hoch nicht.

In einer künftigen Wirtschaftsgroßregion Europa wäre (unter Berücksichtigung der derzeitigen Verhältnisse) zwischen dem gesamten Import und dem Export dieser Region ein relativ ausgeglichenes Verhältnis zu erwarten. Wenn die EU also ihren Bedarf an Industriegütern in weit höherem Maß als bisher selbst produzieren würde, entstünden nicht nur die dafür nötigen Arbeitsplätze - sie müßte auch entsprechend weniger importieren und wäre zum Ausgleich ihrer Handelsbilanz auf entsprechend weniger Exporte angewiesen. Ein Rückgang der Exporte wäre daher problemlos zu verkraften. Erforderlich ist lediglich eine Umstrukturierung der Industrie in den betroffenen Bereichen.

 

Für die „global players“ ist jede Form von Protektionismus kontraproduktiv, denn er schmälert ihre Profitmöglichkeiten. Für die Wohlfahrtsstaaten aber wird ein mäßiger Eingriff in den Wettbewerb zur Existenzfrage.

 

Der Teil der europäischen Produktionskapazitäten, der beim Regionalisierungsmodell für den Export über die EU-Außengrenzen nicht mehr benötigt würde, könnte für den zusätzlichen Produktionsbedarf des europäischen Binnenmarktes (in dem durch Zölle geschützten Bereich) verwendet werden. Bei der Arbeitskräftebilanz wäre hierbei für Deutschland und für die EU sogar eine wesentliche Verbesserung zu erwarten, da im Rahmen der Globalisierung vorwiegend die personalintensiven Bereiche abgewandert sind. Eine Rückkehr dieser Arbeitsplätze böte außerdem den osteuropäischen EU-Beitrittskandidaten Chancen für einen schnelleren wirtschaftlichen Aufschwung, mit dem sie das EU-Niveau erreichen könnten, ohne die EU-Kassen unendlich zu belasten.

Wenn man von der Gewinnmaximierungsabsicht der „global players“ einmal absieht, spricht in der Regel alles dafür, daß die in einer Wirtschaftsregion zusammengeschlossenen Industriestaaten den größten Teil des Güterbedarfs ihrer Region auch selbst produzieren. Natürlich kann in Teilbereichen eine internationale Arbeitsteilung und ein Ausnutzen niedrigerer Arbeitslöhne in anderen Regionen sinnvoll sein, soweit es in einem vernünftigen Ausmaß geschieht und die eigenen Arbeitsmärkte nicht gefährdet. Deshalb müßte sich eine EU-Schutzzollpolitik keineswegs auf alle Industrieprodukte erstrecken, sondern nur die Bereiche erfassen, die von den politischen Entscheidungsträgern unter Arbeitsmarktgesichtspunkten und aus sonstigen im Interesse der Region liegenden Gründen (um zu große Abhängigkeiten von Krisengebieten zu vermeiden) ausgewählt werden.

Auch ökologische Gesichtspunkte sprechen für eine Produktion der Industriegüter in den Regionen, in denen sie auch verbraucht werden. Nur so können unsinnige Transporte vermieden werden, die ihre Ursache allein in der derzeitigen Gewinnmaximierungsmöglichkeit haben. Dieser Gedanke spräche in vielen Fällen sogar für eine noch kleinräumigere Regionalisierung der Produktion. Diese sollte allerdings auf freiwilliger Basis durchgeführt oder durch entsprechende steuerliche oder sonstige Anreize gefördert werden.

Das Modell der großräumigen Regionalisierung kann die Verarmung großer Teile der europäischen Arbeitnehmer verhindern. Es läge daher auch im elementaren Interesse der Gewerkschaften. Deshalb ist es erstaunlich, warum diese zu solchen Vorschlägen schweigen. Ist die von Kritikern behauptete Verfilzung zwischen ihren führenden Funktionären und der Großindustrie etwa schon so weit fortgeschritten, daß die Gewinnmaximierung Vorrang vor Arbeitnehmerinteressen hat? Von Seiten der „ungezähmten Linken“ wird zwar anläßlich internationaler Konferenzen eifrig und auch schlagkräftig (zum Beispiel in Genua) demonstriert. Die Interessen der Arbeitnehmer in den Hochlohnländern scheinen aber auch bei diesen Globalisierungsgegnern nicht im Mittelpunkt zu stehen. Man beklagt dagegen die Ausbeutung der Dritten Welt und die Schäden am Ökosystem. Auch diese Kreise sollten sich einmal mit dem Regionalisierungsmodell befassen, da es auch für die Entwicklungsländer interessante Perspektiven bietet, wie etwa die vorrangige Produktion für den eigenen Bedarf, statt zu Niedrigstlöhnen für den Export in die Hochlohnländer zu arbeiten. Dies ist nur ein Teil der Argumente, die für eine großräumige Regionalisierung als Alternative zur Globalisierung der Wirtschaft sprechen. Es sollte zunächst einmal zu einer offenen Diskussion anzuregen.

Fototext: Textilfabrik nahe der birmesischen Hauptstadt Rangun: Für wenige Groschen fertigen asiatische Arbeitskräfte Jacken und Hosen, die billig auf den deutschen Markt kommen - für beide Seiten nur scheinbar ein gutes Geschäft.

 

Manfred Ritter ist Jurist und hat zusammen mit Klaus Zeitler das Buch „Armut durch Globalisierung“ geschrieben, erschienen 2000 im Leopold Stocker Verlag, Graz.


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